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21.01.2003 11:40

Studie der Uni Bremen: Als die Photographie die "Naturvölker" entdeckte

Angelika Rockel Hochschulkommunikation und -marketing
Universität Bremen

    Ethnologie und Photographie im deutschen Sprachraum
    des 19. Jahrhunderts

    Als im Jahre 1839 die Photographie vorgestellt wurde, waren die damaligen Naturforscher, allen voran auch Alexander von Humboldt, geradezu euphorisiert. Das neue Medium schien Gewähr für eine authentische Sicht auf fremde und exotische Welten zu bieten. Neben ethnographischen Aufnahmen von Sitten und Gebräuchen, Kleidung und Schmuck, Waffen oder Körperhaltung fremder Völker fanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber auch Aufnahmen zur visuellen Dokumentation der vielfältigen körperlichen Erscheinungsformen des Menschen die besondere Aufmerksamkeit des "weißen" Forscher-Blickes.

    Solche Aufnahmen standen im Zusammenhang mit der Suche nach quantifizierbaren Unterschieden in der unendlichen Vielfalt menschlicher Erscheinungsformen. "Naturvölker", so der einst übliche Sprachgebrauch, wurden in besonderem Maße zu einem bloßen Ensemble von Messzahlen degradiert und in Stufenleitermodellen hierarchisch klassifiziert - die Weißen an die Spitze einer unabwendbaren Entwicklung gestellt. Die Photographie sollte dabei die unterschiedlichen Entwicklungsstufen - körperliche wie kulturelle - objektiv und unwiderlegbar im Bilde festhalten. Jene photographisch beglaubigte Vermessungspraxis sollte späteren "Rassenforschungen" und Menschenversuchen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft den Weg weisen.

    Das ist ein Ergebnis der Untersuchungen von Dr. Thomas Theye, die er in seiner Dissertation, "Ethnologie und Photographie im deutschsprachigen Raum: Studien zum biographischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext ethnographischer und anthropologischer Photographien (1839 ? 1884)" an der Bremer Universität kürzlich vorgelegt hat. Die Arbeit wurde betreut von den Professoren Wilfried Müller (Uni Bremen) und Peter Thiele (FU Berlin).

    Theye nähert sich in seinen Studien über den Zusammenhang von Photographie und Ethnologie einer Thematik, der bis in die 1990er Jahre hinein nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Zerrissen, unvollständig und ungeordnet, verstaubten historische Photosammlungen in Archiven, über deren Urheber, Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge kaum noch etwas bekannt war. Mit seiner umfassenden Doktorarbeit hat der Bremer Historiker Licht in das Beziehungsgeflecht von Photographie, Wissenschaftsentwicklung und westlicher Expansion nach Übersee gebracht. Seine Kompetenz in dieser Thematik hat er auch bereits durch die Organisation zahlreicher Ausstellungen in Deutschland unter Beweis gestellt.

    In einem Schwerpunkt seiner Arbeit beschäftigt sich Theye mit dem wissenschaftlichen Gebrauch der Photographie im 19. Jahrhundert und der Rezeption des neuen Mediums im Vergleich zu gezeichneten oder druckgraphischen Vorläufern. Den Erwartungen der Zeitgenossen zufolge waren Photos authentisch und schnell, erlaubten Vergleiche und bewahrten Vergängliches. Diese Vorstellung, photographisch zu dokumentieren und so zu "konservieren", kam besonders der sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts institutionalisierenden Völkerkunde in Europa entgegen. Nach Architekturdenkmälern, Hieroglyphen oder archäologischen Fundstätten sollte die Medienpraxis auf vermeintlich ursprünglich lebende Ethnien, sogenannte "Naturvölker", ausgeweitet werden. Da diese "Naturvölker" nach damaliger Auffassung zum Untergang verurteilt waren, hätte die Photographie das endgültige Verschwinden im Bild kompensieren können. Die Idee eines solchen "photographischen Museums der Menschenrassen" wurde allerdings, so Theye, nur ansatzweise in einigen Publikationen verwirklicht, da sich das Forschungsinteresse gegen Ende des 19. Jahrhunderts stärker monographischen Arbeiten über einzelne Ethnien zuwandte. Die von Adolf Bastian, dem aus Bremen stammenden Spiritus Rector der deutschsprachigen Völkerkunde, geforderte "Gesammtschau" aller Völker und Kulturen trat fortan hingegen eher in den Hintergrund.

    In einem zweiten Schwerpunkt der Dissertation beschreibt Theye an konkreten Beispielen, wie Forscher des 19. Jahrhunderts die Photographie auf ihren Reisen verwendet haben. Bei seinen zuweilen detektivischen Recherchen fand er aufschlussreiche Details heraus, wie etwa Fälschungen der Urheberschaft. So stammen Bilder aus Java, die angeblich bei der Erdumsegelung der österreichischen Fregatte "Novara" von 1857 - 1859 von Karl Ritter von Scherzer gemacht worden sind, nicht von ihm, sondern von dem auf Java lebenden Mansfelder Naturforscher und Direktor der niederländischen Cinchona-Plantagen Franz Wilhelm Junghuhn. Der "Humboldt Javas" genannte Botaniker und Geologe ist heute fast nur noch einem Fachpublikum bekannt, ebenso wie die aus dem Erzgebirge stammende Botanikerin Amalie Dietrich. Sie hatte während eines Forschungsaufenthaltes in Queensland von 1863 - 1872 eine Reihe von Visitkartenphotographien australischer Ureinwohner für das natur- und völkerkundliche Privatmuseum des Südseekaufmannes Johan Cesar VI. Godeffroy erworben.

    Diese Photographien, denen heute als frühesten ethnographischen Bildzeugnissen aus dieser Region überragende Bedeutung zukommt, wurden vom Hamburger Museum Godeffroy als Reproduktionen vertrieben und fanden ihren Weg in zahlreiche ethnographischen Sammlungen rund um den Erdball. Theye untersucht am Beispiel dieser Photographien den Entstehungs- und Vertriebsprozess sowie die Interessen der jeweiligen zeitgenössischen Rezipienten vor dem Hintergrund der Diskussion um Charles Darwins Evolutionstheorie.

    Theye macht in seiner Dissertation auf verschiedene in Vergessenheit geratene Wissenschaftlerpersönlichkeiten und Diskussionsstränge aufmerksam. Dabei bevorzugt er eine differenzierte Darstellungsweise, die über eine Rekonstruktion der einstigen Standpunkte auf ein kritisches Verstehen zielt und nicht auf, von Heute aus getroffene Pauschalurteile. Eine zentrale Figur ist ihm dabei auch Alexander von Humboldt, der auf das Engste mit dem Aufkommen der Photographie verbunden war und mit Recht als einer der wichtigsten Beförderer der frühen Reisephotographie bezeichnet wird. Ob aber das aufklärerische Potenzial des neuen Mediums im 19. Jahrhundert auch tatsächlich eingelöst wurde, die von Humboldt so hochgeschätzte "unnachahmliche Treue" und mit ihr die Hoffnungen auf ein besseres Verstehen der überseeischen Völker und ihrer Kulturen, wie auch der Medienoptimismus, mehr Menschen am visuellen Wissen über die Fremde teilhaben zu lassen, hinterfragt Theye kritisch: Im Zusammenhang des kolonialistischen Diskurses ist die Photographie auch als ein Medium der visuellen Besitzergreifung fremder Völker und Kulturen anzusehen, lieferte sie doch bildkräftige Argumente, um westliche Überlegenheitsansprüche zu legitimieren.

    Weitere Informationen:

    Dr. Thomas Theye
    Busestr. 35
    28213 Bremen
    Tel. 0421 / 2235988
    Email: t.theye@freenet.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kunst / Design, Musik / Theater, Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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