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21.01.2003 13:43

Die Opfer als Individuen würdigen, ihr Schicksal dokumentieren

Dr. Annette Tuffs Unternehmenskommunikation
Universitätsklinikum Heidelberg

    Heidelberger Wissenschaftler legen erste Auswertungen der wiederentdeckten Krankenakten von Opfern der Euthanasie-Aktion T 4 vor

    Wissenschaftler der Universität Heidelberg haben in der Zeitschrift "Der Nervenarzt" erste Ergebnisse zu den Krankenakten von Patienten veröffentlicht, die der nationalsozialistischen "Euthanasie-Aktion T 4" zum Opfer gefallen sind. Sie geben vorläufigen Aufschluss über ihre Krankheitsdiagnosen, die Dauer des Klinikaufenthaltes, sowie ihre Pflegebedürftigkeit und Arbeitsfähigkeit.

    "Mit unserer Forschungsarbeit möchten wir dazu beitragen, dass die anonymen Opfer der ersten zentral organisierten Vernichtungsaktion im Nationalsozialismus als Individuen gewürdigt und ihre Schicksale dokumentiert werden", erklärt Prof. Dr. Christoph Mundt, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Das gemeinsame Forschungsprojekt der Psychiatrischen Klinik und des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Heidelberg (Direktor: Prof. Dr. Wolfgang Eckart) wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Boehringer Ingelheim Stiftung und der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg gefördert.

    Organisationszentrale der T 4 Aktion in der Berliner Tiergartenstraße 4

    Rund 30.000 Krankenakten der "Euthanasie-Aktion T4" wurden Anfang der neunziger Jahre im ehemaligen Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR entdeckt; zuvor hatten sie als verschollen gegolten. Die Akten wurden vom Berliner Bundesarchiv übernommen und werden dort ausgewertet. Der Deckname T 4 geht auf den Sitz der Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 zurück, in der von 1939 bis 1945 mehr als 300 Beamte und Angestellte die Ermordung von über 200.000 psychisch kranken und geistig behinderten Menschen organisierten. Im Oktober 1939 wurde ihre Tötung von oberster Stelle des NS-Regimes angeordnet, deklariert als "Gnadentod für unheilbar Kranke". Etwa 70.000 Anstaltspatienten wurden in sechs Tötungsanstalten verlegt, durch Gas oder Injektionen ermordet und anschließend eingeäschert. Ihre Angehörigen erhielten Schreiben mit gefälschten Angaben zu Todesursachen und Sterbeorten.

    Dennoch wuchs das Misstrauen in der Bevölkerung; die Aktion konnte nicht länger geheim gehalten werden. Insbesondere der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, prangerte die Tötungsaktionen öffentlich an. Im August 1941 wurde die T-4-Aktion deshalb zunächst offiziell gestoppt. Dennoch gingen die Tötungen mit Medikamenten und Hungerkost regional unterschiedlich in einzelnen Anstalten bis 1945 weiter, unter Verantwortung der Anstaltsdirektoren und Ärzte.

    Exemplarische Einzelstudien zeichnen Lebensläufe nach

    Um ein Gesamtbild der "Aktion T 4" zu erstellen, sollen in dem Heidelberger Forschungsprojekt 3.000 der 30.000 Krankenakten detailliert ausgewertet werden. "Wir möchten unter anderem wissen, aus welchem sozialen Umfeld die Opfer stammten", sagt, Dr. Maike Rotzoll, Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg, die zusammen mit Dr. Gerrit Hohendorf und Dr. Petra Fuchs für das Forschungsprojekt verantwortlich ist. Weitere Fragen sind: Welche Kontakte hatten die Patienten zu ihren Familien? Wie wurden sie medizinisch behandelt? Das Projekt möchte dazu beitragen, dass die bisher in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend vergessenen Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie" als Individuen gewürdigt werden können. Darüber hinaus sollen die Dynamik und Organisationsstruktur dieser ersten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus analysiert werden, die gleichzeitig als "Modell" für den Holocaust verstanden werden kann. Dabei geht es nicht nur darum, statistische Auswertungen zu erstellen, sondern in Einzelstudien exemplarisch den Lebenslauf einiger Verstorbener nachzuzeichnen.

    Besonders eindruckvoll dürfte dies für einzelne Patienten gelingen, deren künstlerischer Nachlass in der Sammlung Prinzhorn enthalten ist. Sie enthält künstlerische Werke und Aufzeichnungen von psychiatrischen Patienten und wurde in den Jahren 1919 bis 1921 von dem Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Hans Prinzhorn (1886 -1933) angelegt. Vor zwei Jahren hat die Sammlung einen umgebauten Pavillon in der Nachbarschaft der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg-Bergheim bezogen. Seitdem konnten in mehreren Ausstellungen die künstlerischen Werke und die Schicksale von Patienten der Öffentlichkeit nahe gebracht werden.

    Die meisten Patienten litten an Schizophrenie, "Schwachsinn" oder Epilepsie

    Erste Forschungsergebnisse zu den Berliner Krankenakten vermitteln einen Eindruck von dem Spektrum der Patienten, die der Euthanasie zum Opfer fielen. In einer Pilotstudie wurden 185 Akten auf 50 verschiedene Charakteristika untersucht. "Wir wissen nun als vorläufiges Ergebnis, dass die meisten Opfer schon lange, im Mittel etwa 10 Jahre, in der Klinik waren; einige allerdings auch erst für kurze Zeit", sagt Frau Dr. Rotzoll. Die meisten Patienten waren mehr als zwei Jahre in Anstaltsbehandlung trugen die Diagnosen Schizophrenie, "Schwachsinn" oder Epilepsie; etwa ein Drittel wurde in den Akten als pflegeaufwendig und nicht arbeitsfähig bewertet. Knapp die Hälfte der Patienten verrichtete sogenannte mechanische Arbeiten, z. B. Rosshaarzupfen.

    Sie galten im Sinne der Leistungsanforderungen der NS-Volksgemeinschaft nicht als produktiv tätig und wurden so zur Vernichtung freigegeben. In dem Forschungsprojekt soll auch geklärt werden, welche Rolle ökonomische Motive und rassenhygienische Forderungen bei der ersten systematischen Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus gespielt haben.

    Überragende Bedeutung hat der Berliner Krankenaktenbestand jedoch deshalb, weil er einzigartige Zeugnisse des Lebensweges und der Leidensgeschichte von Menschen enthält, die vor kaum mehr als 60 Jahren für "lebensunwert" gehalten wurden. An sie zu erinnern, ist wesentliches Ziel des Projekts.

    Literatur: Gerrit Hohendorf, Maike Rotzoll, Paul Richter, Wolfgang Eckart, Christoph Mundt: Die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie-Aktion T4", Erste Ergebnisse eines Projektes zur Erschließung von Krankenakten getöteter Patienten im Bundesarchiv Berlin, Der Nervenarzt, 11, 2002, S. 1065 - 1074.

    Ansprechpartner:
    Dr. Maike Rotzoll
    Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg
    Tel.: 06221 / 16 45 23 oder 56 2748,
    E-Mail: maike.rotzoll@urz.uni-heidelberg.de
    Dr. Gerrit Hohendorf
    E-Mail: gerrit.hohendorf@urz.uni-heidelberg.de

    Information zur Sammlung Prinzhorn der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unter http://www.prinzhorn.uni-hd.de


    Weitere Informationen:

    http://www.prinzhorn.uni-hd.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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