Institut Arbeit und Technik untersucht Anreiz- und Regulierungsstrukturen im Vergleich - "subventionierte" Lohnkosten in Deutschland
Mehr als fünf Millionen Menschen in zehn europäischen Ländern haben Wochenarbeitszeiten von weniger als 15 Stunden. Großbritannien mit fast zwei Millionen Erwerbstätigen in "kurzer Teilzeit" stellt dabei den absoluten Spitzenreiter dar, gefolgt von Deutschland mit weit über einer Million und den vergleichsweise "kleinen" Niederlanden mit nahezu einer Million Menschen mit extrem kurzen Wochenarbeitszeiten. Wie eine Untersuchung des Instituts Arbeit und Technik (IAT/Gelsenkirchen) zur Ausgestaltung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse in Europa zeigt, ist die unterschiedliche Verbreitung der geringfügigen Beschäftigung keineswegs eine "zwangsläufige" Folge der Flexibilitätsbedürfnisse moderner Unternehmen, sondern wird in ihrem Umfang weitgehend von den Regierungen über Anreize und restriktive Regelungen gesteuert.
Extrem hohe finanzielle Anreize gibt es in Deutschland, wo für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse mit weniger als 15 Wochenstunden und maximal 620 DM Monatseinkommen (520 DM in Ostdeutschland) die Sozialversicherungsbeiträge entfallen und die Lohnsteuer vom Arbeitgeber pauschal entrichtet werden kann. Bei gleichem Netto-Stundenlohn sind geringfügige Beschäftigungsverhältnisse für den Arbeitgeber trotz Pauschalsteuer um rund 25 Prozent billiger als sozialversicherungspflichtige (Teilzeit)-Beschäftigung. "Die Regulierung sozialversicherungsfreier Beschäftigung in Deutschland ist daher eine indirekte Form der Subventionierung von Lohnkosten", so die IAT-Wissenschaftlerin Dr. Irene Dingeldey. Weitere Kostenvorteile können die Unternehmer verbuchen, weil den geringfügig Beschäftigten allgemeine gesetzliche oder tarifliche Leistungen wie Lohnfortzahlung bei Krankheit, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Überstundenzuschläge und Kündigungsschutz in der Praxis oft vorenthalten werden.
Auch für die Beschäftigten rechnen sich - wenn auch nur kurzfristig - die meist von verheirateten Frauen ausgeübten Billig-Jobs: Ein Paar mit zwei Kindern, bei dem die Frau geringfügig "dazu verdient", erzielt ein um rund 2000 DM höheres Jahres-Nettoeinkommen als ein Paar, bei dem die Frau versicherungspflichtig (teilzeit-)arbeitet und ein Bruttoeinkommen hat, das etwa 5500 DM über dem durch geringfügige Beschäftigung zu erzielenden Einkommen liegt. Langfristig ist eine solche Entscheidung jedoch mit hohen sozialen Risiken (Absicherung im Scheidungsfall, im Alter) verbunden. Gleichzeitig gehen den Sozialversicherungen Beitragseinnahmen von rechnerisch 16 Milliarden DM jährlich "verloren", wovon allein der Rentenversicherung etwa 7,7 Milliarden DM zufließen würden.
Nicht nur die Finanzlöcher im sozialen Sicherungssystem, sondern auch die gewandelten Erwerbsmuster weisen auf eine dringend notwendige Reform der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland hin. Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, in welchen Richtungen Anreiz- und Restriktionssysteme wirken können. Relativ hohe Anteile der geringfügig Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung gibt es in den Niederlanden (23%), Großbritannien (14,4 %), Dänemark (9,5%), Deutschland (7,7%) und Spanien (5,6%), die mit "Anreizen" wie arbeitszeit- oder einkommensbezogenen Freigrenzen für Sozialversicherungsbeiträge operieren. Relativ niedriger ist der Anteil der geringfügig Beschäftigten in Schweden, Frankreich und Belgien, wo restriktive Regelungen vorherrschen: Befreiung von Steuern und Sozialabgaben gibt es so gut wie gar nicht, Ansprüche an die Sozialversicherungen erwirbt man erst bei Mindestarbeitszeiten von 16 bzw. 17 Stunden/Woche. Portugal behandelt Teilzeit weitgehend wie Vollzeit, Sozialversicherungsbeiträge werden ab der "ersten" Arbeitsstunde gezahlt. Allein der Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit setzt ein kontinuierliches, regelmäßiges Arbeitsverhältnis voraus.
Obwohl die Studie zeigt, daß die Regierungen die Beschäftigungsstruktur, d.h. den Anteil von "kurzen" und sozial prekären Teilzeit-Beschäftigungen stark beeinflussen können, gibt es offensichtlich weitere Einflußfaktoren. Kurzfristige Kosten-Nutzen-Kalküle sind nicht die einzige Motivation für Erwerbsentscheidungen der Frauen bzw. der Haushalte oder für die Arbeitgeber: auch die Arbeitsmarktlage, die Einkommensstruktur (wenn das Einkommen des Familienernährers einen Zuverdienst notwendig macht), die Größe des Dienstleistungssektors, die Wertorientierung gegenüber der Erwerbstätigkeit von Müttern und das Vorhandensein von Kinderbetreuungseinrichtungen haben Auswirkungen auf die Verbreitung von geringfügiger Beschäftigung.
"Für die deutsche Reformdiskussion bedeutet dies, daß allein eine Verringerung der ökonomischen Anreize für geringfügige Beschäftigung nicht zwangsläufig zu einer Verringerung dieses Beschäftigungstyps führen würde," so Dr. Irene Dingeldey. Gute Beispiele sind Schweden und Frankreich. Hier ist die "kurze" Teilzeit relativ gering verbreitet, da durch die Einbeziehung auch der "kurzen" Teilzeitverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht keine Verzerrung hinsichtlich der relativen Kosten oder Einkommen im Vergleich mit "langen" Teilzeitarbeitsverhältnissen entsteht. Gleichzeitig gibt es Anreize für "lange" Teilzeit. Dies erscheint als idealer Weg, die Flexibilität, die durch geringfügige Beschäftigung entsteht, dort zu erhalten, wo sie nicht über andere Formen der Arbeitsorganisation erreicht werden kann. Gleichzeitig aber wird das Entstehen von Beschäftigungsverhältnissen angeregt, die eine stärker eigenständige und sozial abgesicherte Lebensführung ermöglichen.
Für weitere Fragen stehen Ihnen zur Verfügung:
Dr. Irene Dingeldey
Durchwahl: 1707-341
Pressereferentin
Claudia Braczko
Munscheidstraße 14
45886 Gelsenkirchen
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