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02.05.2014 09:56

Kein europäisches Meer ohne Müll?

Ralf Röchert Kommunikation und Medien
Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

    Neue Studie zeigt, dass alle untersuchten Meeresregionen Europas verschmutzt sind

    Ein internationales Forscherteam hat erstmals großflächig die europäischen Meere auf Müll untersucht und ist dabei in jeder Region fündig geworden: von küstennahen Gebieten bis hinab in die Tiefsee. Die Ergebnisse dieses Zensus erscheinen am 1. Mai im Online-Fachblatt PLOS ONE. Wie sich dieser Müll auf die Meeresbewohner und schließlich auch auf uns Menschen auswirken wird, ist jedoch bislang weitestgehend unbekannt.

    „Wir waren sehr überrascht zu sehen, wie weit sich unser Müll in den Meeren schon verbreitet hat. Selbst in entlegenen Gebieten wie der Arktis oder des mittelatlantischen Rückens, haben wir Müll gefunden. Dass inzwischen bei fast jedem Kamera- oder Schleppnetz-Einsatz in der Tiefsee Müll zu sehen ist, stimmt schon traurig. Der Müll hat scheinbar schon lange vor uns diesen unbekannten Teil der Erde erreicht“, sagt Dr. Melanie Bergmann.

    Die Meeresbiologin vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, hat an der aktuellen Studie mitgearbeitet. Angeführt von Erstautor Christopher Pham von der Universität der Azoren hat sie mit Wissenschaftlern aus 15 verschiedenen europäischen Forschungseinrichtungen Daten darüber zusammengetragen, wie viel Müll sich in den europäischen Meeren befindet. Dazu hat das Konsortium mit Hilfe von Grundschleppnetzen, Videoaufzeichnungen und Fotos das Müllvorkommen in 32 verschiedenen Meeresgebieten im Nordost-Atlantik, im Arktischen Ozean und im Mittelmeer erforscht.

    Insgesamt haben die Wissenschaftler für die Studie 588 Videoaufnahmen und Schleppnetzproben auf Müll hin untersucht. Einige stammten aus flachen Gewässern in Küstennähe, andere aus einer Tiefe von über 4500 Metern. Es ist das erste Mal, dass Forscher in einer Studie zum Thema Müll im Meer eine solch große Bandbreite verschiedener Lebensräume abgedeckt haben.

    Müll fanden die Wissenschaftler dabei überall: in Küstennähe, am Kontinentalsockel, an Unterwassergebirgen bis hinab in die Tiefsee. Die größten Mengen entdeckten die Forscher in der Nähe dicht besiedelter Ballungsräume – und in Tiefseegräben. Diese Schluchten verbinden zum Teil die flachen Küstengewässer mit der Tiefsee. Durch sie treibt der Müll von den Küsten in entlegene tiefere Wasserschichten.

    Zu den Fundstücken gehören herrenlose Fischereigeräte und -netze, Glasflaschen, Metall. „Die häufigste Müllsorte, die wir gefunden haben, war jedoch Plastik“, sagt Erstautor Christopher Pham. In knapp der Hälfte aller Videoaufnahmen und in fast allen Schleppnetzproben entdeckten die Wissenschaftler Kunststoff. Wo sich größere Plastikstücke ansammeln, vermuten die Forscher auch vermehrt Mikroplastikpartikel. Denn mit den Jahren zerfällt der Kunststoff in immer kleinere Teile – mit bislang unabsehbaren Folgen für die Umwelt. „Mit diesen millimeterkleinen Teilchen fangen die ökologischen Probleme wahrscheinlich erst richtig an. Denn das Mikroplastik bietet nicht nur eine willkommene Oberfläche für verschiedene fettliebende Giftstoffe, es kann sich auch innerhalb der Nahrungskette anreichern“, erklärt Dr. Melanie Bergmann. In einigen Nordsee-Fischen und Langusten sei beispielsweise bereits Mikroplastik nachgewiesen worden. Diese Anzeichen seien vermutlich aber nur die Spitze des Eisberges.

    Der Plastikabfall ist schon bis in die Hohen Breiten der Arktis vorgedrungen. Zu dieser Erkenntnis gelangte Dr. Melanie Bergmann, als sie knapp 3000 Fotoaufnahmen auswertete, die ein ferngesteuertes Kamera-System am Tiefseeobservatorium des Alfred-Wegener-Instituts, dem HAUSGARTEN, in der östlichen Framstraße gemacht hatte. Wie in den anderen europäischen Gewässern hat die AWI-Meeresbiologin auf dem Seeweg zwischen Grönland und Spitzbergen hauptsächlich Plastikmüll gefunden, beispielsweise Plastiktüten (siehe Pressemitteilung vom 22. Oktober 2012). Selbst im Molloy Tief, der tiefsten HAUSGARTEN-Station und dem mit 5500 Metern tiefsten Punkt des Arktischen Ozeans hatten Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts schon im Jahr 1999 Plastikmüll gesichtet.

    Noch können die Wissenschaftler nicht mit Sicherheit sagen, wie sich der Müll über die Meere verteilt. Meeresströmungen, topographische Gegebenheiten aber auch der zunehmende Schiffsverkehr tragen wohl dazu bei, dass der Müll aus unseren Siedlungen und Städten in weit entfernte Meeresregionen gelangt. Dank seiner Langlebigkeit und seines geringen Gewichtes kann besonders Plastik von den Meeresströmungen über weite Strecken transportiert werden. In der Arktis führt wahrscheinlich der Rückgang des Meereises dazu, dass mehr Müll in den Hohen Norden gelangt.

    Wie viel Müll versteckt sich also auf dem Grund der Weltmeere und wie wirkt er sich auf das Leben im Ozean aus? Wissenschaftler wissen, dass Meeresbewohner Müll mit Futter verwechseln oder sich in herrenlosen Netzen verfangen, doch bisher können sie nur vermuten, wie sich der Müll im Meer auf das ganze Ökosystem und schließlich auf uns Menschen auswirken wird.

    Projekte wie diese aktuelle europäische Studie sind damit unerlässlich, um das Problem ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. „Solche Studien sind sehr relevant für politische Entscheidungsträger. Schließlich hat sich die Europäische Union mit ihrer Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie einiges vorgenommen: Sie muss bewerten, wie es aktuell um die europäischen Meere steht und definieren, was überhaupt ein ‚guter Zustand‘ der Meere ist. Die Belastung der Meere durch Müll wird in dieser Richtlinie ausdrücklich erwähnt“, erklärt Dr. Melanie Bergmann.

    Die AWI-Meeresbiologin wird deshalb auch in Zukunft an einem europäischen Forschungsprojekt zum Thema Müll mitarbeiten. Darin will sie gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern Instrumente zur Müllsichtung am Meeresboden optimieren. Darüber hinaus werden die Tiefseeforscher des Alfred-Wegener-Instituts in diesem Sommer Sedimentproben im HAUSGARTEN nehmen, um herauszufinden, ob Mikroplastikpartikel auch schon in dieses Gebiet vorgedrungen sind.

    Die aktuelle Studie entstand unter der Leitung der Universität der Azoren und ist ein Ergebnis des EU-geförderten Forschungsprojektes HERMIONE (Hotspot Ecosystem Research and Man’s Impact on European Seas), einem Projekt, in dem europäische Forschungsinstitutionen untersuchen, wie sich das menschliche Handeln auf die Ökosysteme der Tiefsee auswirkt. Aus Deutschland beteiligte sich neben dem Alfred-Wegener-Institut auch die Jacobs University Bremen.

    Hinweise für Redaktionen:
    Das Paper erscheint am 1. Mai 2014 mit dem Originaltitel Marine litter distribution and density in European Seas, from the shelves to deep basins im online Fachmagazin PLOS ONE. Unter folgendem Link können Sie das Paper lesen: http://dx.plos.org/10.1371/journal.pone.0095839

    Ihre Ansprechpartnerin in der AWI-Pressestelle ist Kristina Bär (E-Mail: kbaer(at)awi.de).

    Für spezifische Fragen zu der Studie wenden Sie sich bitte an Erstautor Christopher Kim Pham, Department of Oceanography and Fisheries, University of the Azores, HORTA, Portugal. (Tel.: +351 965109543; E-mail: phamchristopher@uac.pt).

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    Das Alfred-Wegener-Institut forscht in der Arktis, Antarktis und den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Es koordiniert die Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands.


    Bilder

    Plastiktüte - Framstraße, 2500 Meter Tiefe
    Plastiktüte - Framstraße, 2500 Meter Tiefe
    Foto: Melanie Bergmann, Alfred-Wegener-Institut
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Biologie, Meer / Klima, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Plastiktüte - Framstraße, 2500 Meter Tiefe


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