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25.02.2003 13:04

Deutschland en detail

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Der von Tübinger Wissenschaftlern herausgegebene Band "Inspecting Germany" informiert über Schein und Sein der deutschen Gegenwartskultur

    Als "rau, kriegerisch, freiheitsliebend, naturverbunden, offenherzig, schlicht, bieder und gastfreundlich" werden die Deutschen in der Tradition einer der ältesten ethnologischen Schriften der Welt beschrieben, der "Germania" des Römers Tacitus. In den letzten Jahren haben Ethnologen ihre Feldforschungen zunehmend auch in europäischen und nordamerikanischen Industriegesellschaften durchgeführt. Dabei blieb Deutschland nicht verschont. Was bleibt aber heute von Tacitus' Bild des naturverbundenen Deutschen und von seinem jüngeren Pendant, dem deutschen Barbaren im SS-Kostüm? Seit Anfang der 90er Jahre haben mehr als 100 Ethnologen aus anderen Nationen über die Deutschen gearbeitet. Der Sammel-Band "Inspecting Germany", herausgegeben von Bernd Jürgen Warneken vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft und von Thomas Hauschild vom Institut für Ethnologie der Universität Tübingen, gibt einen Überblick dieser Forschungen.

    Dabei entsteht ein Bild der Deutschen, das in manchem von dem abweicht, was man sich im In- wie Ausland unter "deutscher Kultur" vorstellt. Während vor allem im Ausland die Deutschen sehr oft im Zeichen der nationalsozialistischen Vergangenheit gesehen werden, entsteht hier das Bild eines neuen Deutschland, als Einwanderungsland, als kompliziert von östlichen und westlichen Traditionen bestimmt, als Versuch, den Resten der Vergangenheit in Vorstellungswelten wie in Gesetzgebung und Verwaltung aus dem Wege zu gehen. Auch wenn das nicht immer so gelingt, wie es sich die "demokratisch geläuterten" Deutschen vorgenommen haben. Der Band präsentiert die deutschen Dinge einmal en detail, aus der Perspektive einer gegenwartsbezogenen Alltagsforschung, "on the grassroots" und "face to face". Anfängliche Vorurteile der Feldforscher, die in die Analysen einbezogen sind, wurden regelmäßig enttäuscht - in diesem Unvorhergesehenen liegt die Stärke ethnologischer Mikrostudien.

    Der Band versammelt neben einer ausführlichen Einleitung zur ethnologischen Deutschland-Forschung insgesamt 26 Berichte über aktuelle Mikrostudien zum Alltagsleben in Deutschland, verfasst von Forscherinnen und Forschern aus 14 Ländern. Neue und alte "Deutsche Muster" des Verhaltens, von der "Fasnet" bis zu Studien über das Verhalten deutscher Genforscher kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Optionen und Strategien von Vietnamesen, Türken und Russen in Deutschland. Der Band berichtet über das Schicksal von Hunden im Wohlstandsland D. ebenso wie über gelebte Multikulturalität in einer Schule und den Rückfall auf "Ostalgie" - und damit auf ein ganz andere als die sonst so gerne in deutsches Verhalten hineingesehenen traditionelle Muster des Deutschseins. Dabei werden von den ethnologischen Feldforschungen auffällig oft Themen vorweggenommen, die erst in der Zeit der Ausarbeitung des Sammelbandes politische Aktualität gewannen - die Ganztagsversorgung von Kindern zum Beispiel, Rassismus bei Menschen, die sich nicht für Rassisten halten, das neue Rabattgesetz und die bleibenden Vorurteile zwischen Ost und West. Wenn man darüber mehr erfahren will als das, was politische Debatten und Leitartikel in ihrer Verkürzung zu bieten haben, wird man den Band "Inspecting Germany" als Fundgrube des Wissens über die Deutschen erleben.

    Das Spiel von Traditionen und Neuschöpfungen erzeugt eine große Bandbreite von "deutschen" Verhaltensweisen, was aber bleibt, ist der Blick auf eine der großen Konfliktzonen der Weltkulturen und internationalen politischen Mächte, die "Germania", wie sie einst von Tacitus beschreiben wurde, bewohnt von vielen Völkern, politisch manchmal ein Pulverfass, erdgeschichtlich betrachtet aber einer der ruhigsten und fruchtbarsten Plätze, an dem es sich immer wieder zu leben lohnt. Der Band kann somit auch als Plädoyer für eine unaufgeregte Betrachtung der Deutschen gelesen werden. Es ist ein auch für den Schulgebrauch oder für die Orientierung allgemein historisch und politisch interessierter Leser und Leserinnen geeignetes Kaleidoskop der kulturellen Möglichkeiten im Zentrum Europas. In der neuen Ära der Berliner Republik werden wir dabei mit der ethnologischen Deutschlandforschung aus aller Welt zu rechnen haben - als kritischen Begleiter und als Entscheidungshilfe, manchmal ärgerlich, oft aber auch eine Horizonterweiterung, auf die eine postmoderne Nation nicht verzichten kann.

    Der Band öffnet eine wissenschaftliche Reihe innovativer Texte zur Ethnologie Europas, herausgegeben von Spezialisten aus Volks- und Völkerkunde: "FORUM EUROPÄISCHE ETHNOLOGIE". Diese Reihe soll zur verstärkten Integration eines zwischen europäischer und kulturvergleichender Ethnologie entstandenen interdiziplinären Arbeitsfeldes beitragen, auf dem sich historische Perspektiven mit Erkenntnissen kreuzen, die durch teilnehmende Beobachtung von Alltagsverhalten gewonnen werden.

    Hauschild, Thomas u. Bernd Jürgen Warneken (Hg.)
    Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart,
    Forum Europäische Ethnologie (herausgegeben von Dorle Dracklé, Thomas Hauschild, Wolfgang Kaschuba, Orvar Löfgren, Bernd Jürgen Warneken und Gisela Welz), Bd. I, Münster-Hamburg-London (LIT-Verlag), 2002, ISBN 3-8258-6123-6.

    Nähere Informationen:

    Prof. Dr. Thomas Hauschild
    Institut für Ethnologie
    Burgsteige 11 (Schloss)
    72070 Tübingen
    Tel.: (07071) 29-75454, Fax: (07071) 29-4995
    E-Mail: thomas.hauschild@uni-tuebingen.de

    Prof. Dr. Bernd Jürgen Warneken
    Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft
    Burgsteige 11 (Schloss)
    72070 Tübingen
    Tel.: (07071) 29-75309, Fax: (07071) 29-5330
    E-Mail: bernd-juergen.warneken@uni-tuebingen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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