idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
20.03.2003 08:58

Unter der Oberfläche lebt die Magie weiter

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Ethnologie

    Kulte und Magie werden eher mit dem Mittelalter als mit unserer heutigen Zeit in Verbindung gebracht. Doch der Tübinger Ethnologe Prof. Thomas Hauschild geht davon aus, dass solche kulturellen Traditionen nie überwunden, sondern nur zeitweise verdeckt werden. Er untersucht in Italien, welche "Reserven" dieser Traditionen noch vorhanden sind und wie die Menschen damit in Zeiten der Globalisierung umgehen.

    Unter der Oberfläche lebt die Magie weiter

    Tübinger Ethnologe erforscht den Zusammenhang zwischen Kulten und Macht in Italien

    Italien ist zweifellos ein kulturell modernes Land. In Mode und Design etwa sind die italienischen Metropolen den deutschen weit voraus. Und in den Zeiten der Globalisierung, in denen wirtschaftliches und rationales Denken vorherrschen, scheinen die europäischen Staaten sowieso ein in großen Teilen einheitliches Bild abzugeben. Wer bringt Italien heute mit Geisterbeschwörungen und Magie in Verbindung? Doch unter der modernen Oberfläche kann es ganz anders aussehen. Mystische Strömungen und Traditionen, die sich noch heute in sozialen Gefügen und Kulten bis hin zum Aberglauben hinter der modernen Fassade verborgen halten, erforscht Prof. Thomas Hauschild vom Institut für Ethnologie der Universität Tübingen.

    Die kulturellen Traditionen, die sich kleinräumig in Italien gehalten haben, finden sich in ganz anderer Ausprägung aber ähnlicher Form auch in Schwaben: "Die Daimler-Chrysler-Industrie mit ihren Welterfolgen hat hier ihren Sitz, doch daneben gibt es den schwäbischen Dialekt, die lokale Küche und die Menschen fühlen sich tief in der Landschaft verwurzelt", erklärt Hauschild. In Form von Ufo-Trancekulten, spirituellem Heilen und charismatischem Christentum lebten auch hier alte Körpertechniken mächtig weiter. Mit dem Begriff Mentalität, so der Forscher, ließen sich diese regionalen "Reserven", die sich bei aller Weltoffenheit und Globalisierung erhalten haben, nicht zureichend beschreiben. Man müsse den Bezug zu den geografischen Voraussetzungen und zur politisch-religiösen Geschichte klarer knüpfen, gerade im Zeitalter der Globalisierung. Die Menschen in den Landschaften des Mittelmeerraums lebten schon immer mit ganz anderen Voraussetzungen als die Deutschen. "Italien ist bis heute erdgeschichtlich ein unruhiges Land mit Vulkanausbrüchen und Erdbeben. Dieses geografische Moment spielt in die Mittelmeerforschung immer wieder mit hinein, auch in der historischen Tradition", sagt Hauschild. Er erforscht, wie die Menschen in Italien mit der Globalisierung einerseits und ihren historisch gewachsenen Strukturen andererseits umgehen. Dabei entsteht ein Bild, dass sozusagen die kollektive Organisation des Seelenlebens der Gesellschaft nachzeichnet.

    Drei Jahre lang hat Hauschild Feldforschung in Süditalien betrieben, in einem Dorf der Region Basilicata, mit rund 2000 Bewohnern. Die Landschaft im Schatten eines Vulkans ist stark katholisch geprägt, die Wallfahrtsheiligtümer St. Gerhard Maiella und des Padre Pio liegen in der Umgebung. "Die Menschen in Basilicata haben mich sehr unterstützt. Sie waren begeistert, dass sich jemand für ihre soziale Gruppe interessierte", erzählt Hauschild. Er hat zunächst den lokalen Dialekt gelernt, ist mit den Männern auf die dort üblichen Rundgänge auf der Piazza mitgegangen und hat Freundschaft mit einigen Familien geschlossen. Daneben hat der Forscher aus der historischen Literatur und Archiven Datensammlungen zu solch unterschiedlichen Gebieten wie politischen Intrigen und medizinischen Praktiken angelegt. "Nach einiger Zeit wurde ich auch an Heilpraktiken beteiligt. Deren Anfänge gehen weit zurück bis in die Renaissancemedizin des 16./17. Jahrhundert mit Beschwörungsformeln und Gebeten", sagt Hauschild.

    Der Schutzheilige der ländlichen Gemeinde Ripacandida ist San Donatello, der im 13. Jahrhundert gelebt hat. Die Legende besagt, er habe mit seinem Ärmel einen dreckigen Ofen ausgewischt und der Ärmel sei dabei völlig sauber geblieben - das Bild vom Heiligen, der immer sauber und makellos bleibt. "Solche Denkweisen finden sich verblüffenderweise noch heute in der italienischen Politik", sagt Hauschild. Beispiel sei der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi, der bei aller Undurchsichtigkeit stets ein makelloses Äußeres zeige. "Das gab es auch bei Magiern, eine 'glatte' männliche Elite, die die schmutzigen kleinen Geheimnisse des Seelenlebens und des sozialen Lebens gut verbergen kann", so der Ethnologe. Auch fänden sich religiöse Metaphern in der Politik. "Als erstmals Anklage gegen ihn erhoben wurde, vor etwa sieben Jahren, hat Berlusconi gesagt: 'Ich bin gesalbt, ich kann nicht verhaftet werden.' Er sieht sich im Zentrum religiöser Heilserwartung und will das Bild des perfekten Menschen verkörpern, der allen Schmutz übersteht", erklärt Hauschild. "Es erscheint vielleicht abwegig daran zu glauben, doch eigentlich suchen auch wir Deutschen genau das ebenfalls, das Makellose, etwa in der Werbung." Und er wartet mit einem überraschenden Gedankensprung auf: "Wenn man die 'Suche nach Makellosigkeit' im Detail erklären kann, weiß man auch, worin das Charisma besteht."

    Auch in Schwaben seien bis ins 19. Jahrhundert Geistersichtungen und andere Kulte gang und gäbe gewesen. "Sie sind teilweise untergegangen oder haben sich in das Gebiet der Psychiatrie verschoben", sagt Hauschild. Nach dem Krieg, nachdem die Deutschen die Anbetung der NSDAP und Hitlers aufgegeben hätten, seien in Deutschland die Kirchen voll gewesen, Kulte seien aufgekommen. "Das wird nicht historisch überwunden, nur zeitweise verdeckt und kann jederzeit wieder auftreten", sagt Hauschild. Er sieht auch in der heutigen Techno-Kultur, in Rave-Partys, Kultelemente. In Italien seien Geisteraustreibungen, das "Reden in Zungen" und Verhexungen weiterhin sehr verbreitet. "Auch das Fernsehen hat gleich mehrere Tarot-Programme mit Magiern, die den Leuten live die Karten legen", sagt Hauschild.

    In die Kulte am Mittelmeer gehen nach Ansicht von Hauschild die Einflüsse verschiedener Traditionen ein: Das sind zum Beispiel Elemente aus afrikanischen Besessenheitskulten, die heute noch in Nordafrika zu finden sind und die teilweise auch noch im christlichen Exorzismus auftreten. Hinzu kommen schamanistische Traditionen aus dem Nordosten wie der Seelenflug. Aus der katholischen Tradition stamme etwa die exorzistische Therapie, die Idee des Wunders und des Wunderbildes. Schließlich würden in einer Renaissancetradition antike Vorstellungen von der Alchimie und dem Kartenlegen wieder aufgenommen. "In Italien sind diese Kulte dichter unter der Decke zu finden als hier. Aber auch hier gibt es Beispiele, wie etwa die vermehrte Einrichtung von Schreiambulanzen in Kinderkliniken", sagt Hauschild. "Im Mittelmeerraum ist das Phänomen der Kinder, bei denen der Ausgleich der Launen nicht funktioniert, als 'böser Blick' bekannt. Dort lösen Magierinnen das Problem mit bestimmten Techniken - das gilt übrigens sowohl für die jüdische, wie für die christliche als auch für die islamische Tradition", erzählt der Forscher. Er habe selbst oft beobachtet, wie die alten Frauen mit den aufgeregten, schreienden Kindern umgehen. "Die Zauberformeln, die sie dabei sprechen, sind wohl eher dazu gedacht, sich selbst in einen beruhigend wirkenden Zustand zu versetzen, und so gelingt die erneute Rhythmisierung der Kinder", sagt Hauschild.

    Wie gehen die Menschen mit Kulten und Magie um? "Manche machen ein großes Geheimnis daraus, indem sie diesen Handlungen etwas Sagenumwobenes geben. Andere reagieren mit krasser Ablehnung, aber wenden es in der Not, etwa bei schlimmen Schmerzen, selbst an. Eine dritte Gruppe nimmt diese Dinge als so selbstverständlich hin, dass sie gar nicht von rationaleren Dingen abgegrenzt werden", erklärt Hauschild. Er habe beobachtet, dass manche älteren Frauen in Süditalien, magische Formeln für den Hausgebrauch zusammen mit Kochrezepten sammeln. Hauschild will in seinen nächsten Forschungsprojekten die kleinräumigen, kulturell-politischen Profile des kultischen und magischen Handelns im Mittelmeerraum zu einem großen Patchwork zusammensetzen und auch interdisziplinär diskutieren, wie auf bestimmte "Reserven" positiv zurückgegriffen wird oder reservierte Haltungen bis hin zum Fundamentalismus entstehen. (7716 Zeichen)

    Nähere Informationen:

    Prof. Thomas Hauschild
    Institut für Ethnologie
    Schloss
    72070 Tübingen
    Telefon 0 70 71/2 97 85 38
    Fax 0 70 71/29 49 95
    E-Mail: thomas.hauschild@uni-tuebingen.de

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html. Dort sind auch einige Bilder zu sehen, die auf Anforderung per E-Mail zugeschickt werden können.

    Die ethnologischen Forschungen in Italien sind kürzlich auch in einem Buch veröffentlicht worden: Thomas Hauschild: Magie und Macht in Italien. Merlin Verlag, 2002, ISBN 3-87536-232-2. Auf der Leipziger Buchmesse 2003 liest Thomas Hauschild aus seinem Buch am 22. März, um 17 Uhr in der Alten Handelsbörse, Naschmarkt 1, 04109 Leipzig.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).