idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
21.03.2003 13:07

Bewusstsein verstehen durch Synästhesie-Forschung

Dr. Arnd Schweitzer Stabsstelle Kommunikation
Medizinische Hochschule Hannover

    Erster internationaler Kongress zum Phänomen der verknüpften Sinne

    "Synaesthesia meets Science, Art and Philosophy" - unter diesem Motto steht der erste internationale Synästhesie-Kongress, der vom 22. bis 23. März 2003 in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) stattfindet. Die Organisation übernahm ein Team um Professor Dr. Dr. Hinderk Emrich, Direktor der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der MHH. Rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer - darunter auch Experten aus den USA, Australien, Russland und Großbritannien - werden über den aktuellen Stand der Forschung diskutieren. Neben Bewusstseinsforschern sind auch Synästhetiker und Philosophen eingeladen.

    Was ist Synästhesie?

    Synästhesie ist eine besondere Fähigkeit, bei der sich die Sinne vermischen: Buchstaben werden farbig, obwohl sie nur schwarz auf weiß auf einem Blatt Papier stehen. Musik bekommt Formen und Strukturen, die sich mit Melodie und Klangfarbe vor dem inneren Auge verändern. Die Synästhesie tritt bei Frauen viel häufiger auf als bei Männern (im Verhältnis 8 zu 1) und in manchen Familien sehr viel öfter als in anderen. Wissenschaftler vermuten, dass bei Synästhetikern eine genetische Veränderung des X-Chromosoms vorliegt. Der konkrete Nachweis steht allerdings noch aus. Die Häufigkeit in der Bevölkerung liegt bei ungefähr 1 zu 1000.

    Welche Arten von Synästhesie gibt es?

    Forscher unterscheiden "genuine" Synästhesien, die in der Regel in der frühen Kindheit beginnen und bei denen ein Sinnesreiz fest mit einer bestimmten Farb- oder Form-Wahrnehmung gekoppelt ist, und erworbene Synästhesien, die bei neurologischen Krankheiten oder unter psychoaktiven Drogen wie LSD oder Meskalin auftreten und meist nicht von Dauer sind. Eine dritte Form ist die Gefühls-Synästhesie: Sie wird nicht zwingend durch einen Reiz ausgelöst, die Betroffenen können sie willkürlich hervorrufen. Schließlich gibt es noch die "assoziative Pseudosynästhesie" - hier haben Menschen in der Kindheit aktiv gelernt, Buchstaben mit Farben zu verknüpfen.

    Lässt sich das Phänomen erklären?

    Wie das Gehirn funktioniert, wie es Sinneseindrücke verarbeitet und daraus unsere Wahrnehmung zusammenfügt, ist in großen Teilen immer noch unklar. Theorien versuchen, das Phänomen Synästhesie zu erklären:

    1. Synästhesie könnte durch Nervenverbindungen entstehen, die im "Normalfall" während der frühen Kindheit verschwinden und die bei Synästhetikern erhalten geblieben wären.

    2. Synästhesie könnte durch einen so genannten "cross talk" entstehen zwischen ansonsten voneinander getrennten Nervenbahnen. Das heißt: Auf dem Weg von den Sinnesorganen zu den Verarbeitungszentren im Gehirn treten die Signale miteinander in Kontakt.

    3. Synästhesie entsteht, weil Sinneswahrnehmungen nicht ausschließlich in eine Richtung (vom Sinnesorgan zum Wahrnehmungszentrum) gesandt werden, sondern auch an andere Zentren weiterfließen. Ein Beispiel: Ein Signal trifft über den Hörnerv ein, wird dann so verarbeitet, dass die Person einen Ton wahrnimmt. Gleichzeitig könnte der Reiz auch zum Sehzentrum im Gehirn weitergeleitet werden und dort eine Sehwahrnehmung auslösen.

    4. Synästhesie entsteht, weil Strukturen des limbischen Systems aktiviert werden - ein Hirnareal, das in der Mitte des Großhirns liegt und Gefühle reguliert. Es verknüpft Sinnesdaten aus der Außenwelt und innere Zustände wie Motivationen und Emotionen und könnte als "Brücke" zwischen zwei Hirnarealen fungieren, in denen Sinnesreize verarbeitet werden.

    5. Synästhesie könnte entstehen, weil ein bestimmtes Areal im Stirnlappen des Gehirns gehemmt wird. Dort befinden sich besonders viele multisensorische Nervenzellen, die mehrere unterschiedliche Sinnesdaten verarbeiten können. Die Idee: Weil Strukturen im Stirnlappen gehemmt sind, werden andere Areale im Gehirn freigeschaltet; Informationen sickern so auf anderen Bahnen durch. Eine weitere Deutung besagt: Mit der Hemmung der multisensorischen Nervenzellen versucht das Gehirn, die synästhetische Wahrnehmung auf ein Minimum zu reduzieren, weil sie mit der normalen Wahrnehmung in Konflikt gerät.

    6. Synästhesie könnte entstehen, weil Synästhetiker eine unzensierte Wirklichkeit erleben. Bei ihnen filtert das Gehirn keine sich widersprechenden Sinneswahrnehmungen heraus, wie es üblicherweise geschieht: Im "Normalfall" vergleicht das Gehirn eingetroffene Sinnesdaten mit einem Bild von der Welt, das Jeder in sich trägt. Wenn die Daten widersprüchlich oder nicht interpretierbar sind, werden sie der bisherigen Wirklichkeitserfahrung angepasst - es findet eine Zensur statt.

    Kann die Synästhesieforschung die Frage klären: "Was ist Bewusstsein?"

    Um mehrere Sinneseindrücke (Beispiel: "duftende rote Tulpe in blauer Vase") als eine Einheit wahrzunehmen, muss das Gehirn verschiedene Leistungen vollbringen: Die Hirnrinde muss die Aufmerksamkeit steuern, das Gehirn muss die Sinnesdaten mit Gedächtnisinhalten verknüpfen und das Wahrgenommene muss mit Emotionen getönt werden. Da das Gehirn diese Schritte nicht an einem einzelnen Ort verarbeitet, müssen sie räumlich und zeitlich gebündelt werden. Wie das genau funktioniert, ist eine wichtige Frage in der Bewusstseinsforschung. Weil es bei der Synästhesie ebenfalls um die Wahrnehmung einer Einheit geht (Beispiel: "Chopin-Klavierkonzert und blau-grüne Farbmuster"), kann die Forschung auf diesem Gebiet auch bei der Frage nach dem Bewusstsein helfen.

    Möglicherweise entsteht Bewusstsein, weil das limbische System als "Brücke" fungiert und zwei Hirnareale miteinander verknüpft, die in Beziehung treten sollen. Dabei wird die Sinneserfahrung mit einer Bewertung, einer Emotion versehen und zu einem zusammenhängenden Ganzen verschmolzen. Ein solches Konzept würde auch zu der Erkenntnis passen, dass Menschen nicht nur denken, sondern auch das Gedachte zugleich fühlen.

    Weitere Informationen gibt gern Professor Dr. Dr. Hinderk Emrich, Telefon: (0511) 532-6571, E-Mail: Emrich.Hinderk@mh-hannover.de

    oder sind im Internet zu finden unter: www.mhh-synaesthesie.de

    Buchtipp: "Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen",
    S. Hirzel Verlag, Stuttgart, Leipzig 2002


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).