Buchpublikation als Ergebnis einer deutsch-israelischen Kooperation – Gemeinschaftsprojekt von Medizinhistorikern der Universitäten Gießen und Jerusalem
Die aktuellen gesetzlichen Regelungen zu aktiver Sterbehilfe und assistiertem Suizid sind in Deutschland im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten Niederlande, Belgien oder Schweiz restriktiv. Gegner ebenso wie Befürworter einer Liberalisierung sehen dies als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus, ob angemessen oder nicht, jedenfalls aber als spezifisch deutsches Phänomen. Ein neues Buch von Medizinhistorikern aus Gießen und Jerusalem zeigt, dass Annahmen von einem deutschen Sonderweg zu kurz greifen. Der Band, der am 21. Januar 2015 unter dem Titel „Silence, Scapegoats, Self-Reflection: The Shadow of Nazi Medical Crimes on Medicine and Bioethics” in englischer Sprache erscheint, ist das Ergebnis einer jahrelangen Zusammenarbeit von Prof. Dr. Volker Roelcke und Dr. Sascha Topp vom Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und Dr. Etienne Lepicard, The Hebrew University of Jerusalem, die auf eine frühere Kooperation im Sonderforschungsbereich (SFB) „Erinnerungskulturen“ aufbaut.
Der Bundestag hat mit einer auf Monate angelegten Debatte über die Frage der Sterbehilfe begonnen. Im Dezember 2014 fand eine erste Plenardiskussion zu einem geplanten Gesetz über assistieren Suizid statt; das Gesetzgebungsverfahren soll im Laufe des Jahres 2015 abgeschlossen werden. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Diskussionen um Sterbehilfe liefert die Neuerscheinung interessante medizingeschichtliche Hintergründe.
In den medizinethischen Debatten werde der Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus oft als unverzichtbar wichtig oder, im Gegenteil, als unsachgemäße „Nazi-Keule“ oder auch „Anti-Bioethik“ charakterisiert, erläutert Prof. Roelcke. Mit dem Buch wollten er und die beiden anderen Autoren zeigen, dass solche Annahmen von einem deutschen Sonderweg zu kurz greifen. Dabei gerate aus dem Blick, dass die gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe in Deutschland, die von ärztlichen Standesorganisationen vertretenen Positionen und schließlich die Formen der Bezugnahme auf die Krankentötungen und Humanexperimente während Zeit des Nationalsozialismus keineswegs statisch sind, sondern sich mit der Zeit deutlich verändert haben.
Die Publikation weist nach, dass auch in europäischen Nachbarländern, in Israel oder auf der Ebene des Weltärztebundes heftige Debatten über die Bedeutung der Medizinverbrechen für die aktuelle Medizin und Bioethik geführt wurden und werden. So wird dokumentiert, dass die oft stereotyp als extrem liberal gesehene Haltung in den Niederlanden noch in den 1970er Jahren ganz anders aussah und die Unantastbarkeit des Lebens ein durchaus häufiges Argument war. Gerade Verweise auf die extreme Form aktiver Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus trugen aber paradoxerweise zur Entwertung dieser Position bei: Im Kontext niederländischer Identitätspolitik mit starker Abgrenzung zu Deutschland hatten die Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus nichts mit den Niederlanden zu tun, die ja Opfer waren.
Der Band analysiert die Formen der Bezugnahme auf die Medizinverbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus in ihrer Bedeutung für Medizinethik und professionelles Selbstverständnis von Ärztinnen und Ärzten in unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen. Er dokumentiert teils widersprüchliche Bilder von der Vergangenheit sowie ihre Funktion und Instrumentalisierung im Kontext ärztlicher Standespolitik und Medizinethik bis in die Gegenwart.
Die Sicht der Opfer von Medizinverbrechen findet besondere Berücksichtigung, auch sind in einem umfangreichen Anhang Stellungnahmen von Standesorganisationen, Fachgesellschaften und einer Opfer-Vereinigung zur Bedeutung der Vergangenheit für die aktuelle Medizin dokumentiert.
Weitere Informationen
Volker Roelcke, Sascha Topp, Etienne Lepicard (eds.): Silence, Scapegoats, Self-Reflection:
The Shadow of Nazi Medical Crimes on Medicine and Bioethics. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht / V & R unipress 2014
Formen der Erinnerung, Band 059 V&R unipress
1. Auflage 2015, 379 Seiten, gebunden, 49,99 Euro, ISBN 978-3-8471-0365-3
Kontakt
Prof. Dr. Volker Roelcke
Geschäftsführender Direktor
des Instituts für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Iheringstraße 6, 35392 Gießen
Telefon: 0641 99 -47701; Fax: 0641 99-47709
E-Mail: volker.roelcke@histor.med.uni-giessen.de
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Die 1607 gegründete Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) ist eine traditionsreiche Forschungsuniversität, die rund 28.000 Studierende anzieht. Neben einem breiten Lehrangebot – von den klassischen Naturwissenschaften über Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften bis hin zu Sprach- und Kulturwissenschaf¬ten – bietet sie ein lebenswissenschaftliches Fächerspektrum, das nicht nur in Hessen einmalig ist: Human- und Veteri¬närmedizin, Agrar-, Umwelt- und Ernährungswissenschaften sowie Lebensmittelchemie. Unter den großen Persönlich¬keiten, die an der JLU geforscht und gelehrt haben, befindet sich eine Reihe von Nobelpreisträgern, unter anderem Wilhelm Conrad Röntgen (Nobelpreis für Physik 1901) und Wangari Maathai (Friedensnobelpreis 2004). Seit 2006 wird die JLU sowohl in der ersten als auch in der zweiten Förderlinie der Exzellenzinitiative gefördert (Excellence Cluster Cardio-Pulmonary System – ECCPS; International Graduate Centre for the Study of Culture – GCSC).
http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb11/institute/histor - Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medizin
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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