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11.03.2015 14:05

Mannheimer Sozialforscher: Griechenland ist arm – vor allem an Vertrauen

Katja Bär Pressestelle: Kommunikation und Fundraising
Universität Mannheim

    Das vertrauensärmste Land Europas braucht nicht (nur) mehr Geld, sondern eine neue Zivilgesellschaft / Studie von Prof. Dr. Jan W. van Deth und Dr. Yannis Theocharis

    Die tieferen Ursachen für den Niedergang Griechenlands sind weniger ökonomischer und finanzieller Natur, als vielmehr sozialen und politischen Ursprungs. Zu diesem Schluss kommen die Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Jan W. van Deth und Dr. Yannis Theocharis vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim. Die länderübergreifende Langzeitstudie „European Social Survey“ (ESS) belege, dass Griechenland an einem in Europa einzigartigen Mangel an sozialem und politischem Vertrauen leide. Dies sei in vielerlei Hinsicht fatal für jede Gesellschaft, so die Wissenschaftler.

    Ist die „Griechische Tragödie“ in ihrem Ursprung also keine Frage des Geldes, sondern eine Frage des gesellschaftlichen Miteinanders? Ja, meint Jan van Deth, Professor für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung. Für ihn sind die Finanzmisere und der wirtschaftliche Absturz Griechenlands nur die augenfälligsten Symptome einer langjährigen Vertrauenskrise, die sowohl die gesellschaftlichen Institutionen als auch das Miteinander der Menschen lähme. „Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen der Bürger untereinander und in die politischen Institutionen kann eine Demokratie nicht funktionieren – zumindest nicht gut und nicht über längere Zeit“, so van Deth. Das sei nicht nur sozialwissenschaftliche Theorie, sondern auch empirisch belegbar.

    Kaum Vertrauen in politische Institutionen – aber nicht erst seit der Krise

    Dr. Yannis Theocharis, selbst Grieche und nach Studium und Promotion in London nun Research Fellow und Projektleiter am MZES, erklärt: „Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Griechen auch schon in den Jahren vor der Wirtschafts- und Finanzkrise im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein sehr geringes Vertrauen in die meisten relevanten gesellschaftlichen Institutionen hatten. Im Zuge der Krise hat sich der Vertrauensverlust lediglich noch verschärft.“ So belege Griechenland beim Vertrauen in Parlament, Politiker und Parteien unter 18 untersuchten Ländern immer den letzten Platz.

    Auch im persönlichen Vertrauen ist Griechenland Europas Schlusslicht

    Das fehlende Vertrauen in den Staat, seine Organe und Repräsentanten wird in Griechenland auch nicht durch ein Mehr an Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger untereinander ausgeglichen. Während auf einer Skala von null (kein Vertrauen in andere Menschen) bis zehn (volles Vertrauen) der europäische Mittelwert stets zwischen fünf und sechs liegt, so erreicht Griechenland im langjährigen Vergleich nie höhere Werte als zwischen drei und vier. Abgesehen von wenigen Ausnahmen in der Vergangenheit, in denen Portugiesen, Zyprer und Slowenen einander punktuell noch weniger vertrauten, ist das persönliche Misstrauen der Griechen seit vielen Jahren am stärksten ausgeprägt. „Auch im persönlichen Umgang stellt Griechenland damit alles in allem die vertrauensärmste Gesellschaft Europas dar, was sich negativ auf alle Formen gesellschaftlicher Kooperation auswirkt“, fasst Yannis Theocharis zusammen.

    Ursächlich sei in erster Linie der langjährige Klientelismus der beiden ehemals großen Volksparteien. Deren systematische Patronage habe Chancenungleichheit zementiert und – neben anderen Problemen – zu einem völlig überdimensionierten und ineffizienten öffentlichen Sektor geführt. Das öffentliche Leben sei nahezu völlig parteipolitisch dominierten Netzwerken unterworfen, so van Deth und Theocharis. Das vergifte das gesellschaftliche Klima und ersticke alle anderen Formen gesellschaftlichen Engagements, aus dem in funktionierenden Demokratien ein hohes Maß an sozialen Beziehungen, sozialer Kontrolle und auch volkswirtschaftlichem Mehrwert entstehe.

    Einmalige Chance für zivilgesellschaftlichen Neustart

    Wichtig sei daher, nicht nur an ökonomischen Stellschrauben zu drehen, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Neustart zu initiieren. Das sei zwar eine Sisyphusarbeit, aber doch nicht gänzlich unmöglich, so van Deth und Theocharis: Der Machtverlust der alten Eliten und der gravierende Reformbedarf böten eine einmalige Chance, einen sozialen und politischen Kulturwechsel zu forcieren. Die Mannheimer Sozialforscher empfehlen Athen unter anderem die Förderung von unabhängigen zivilgesellschaftlichen Initiativen anstelle von parteipolitischen Seilschaften. Auch ein Eingreifen im Bildungssystem sei notwendig; so würden beispielsweise Kompetenzen für Demokratie und Zivilgesellschaft in Schweden schon im Vorschulbereich vermittelt. In Griechenland sei dies selbst in der Ausbildung der Lehrer kein Thema.

    Um die öffentliche Verwaltung zu reformieren, empfehlen die Mannheimer Forscher, das Regierungshandeln im Umgang mit den Bürgern strikt an den Grundsätzen der Fairness, Rechtsgleichheit und Transparenz auszurichten. Das gelte insbesondere für die nachgeordneten Behörden, die tatsächlich im direkten Kontakt mit dem Bürger für die Um- und Durchsetzung von Vorschriften sowie für die Ahndung von Verstößen verantwortlich sind. Auf dieser Ebene, so Theocharis, sei Korruption besonders verbreitet. Mögliche Gegenmaßnahmen habe die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bereits erarbeitet. Diese seien nun vollends umzusetzen.
    Als kontraproduktiv bezeichnet Theocharis dagegen die Überlegung Athens, Bürger im Alltag als verdeckt ermittelnde Amateur-Steuerfahnder einzusetzen. Dieses Vorgehen könne den gesellschaftlichen Zusammenhalt noch weiter schwächen, fürchtet der Wissenschaftler.

    Weitere Informationen und Kontakt:

    Yannis Theocharis und Jan van Deth haben ihre Untersuchung, einschließlich weiterer Politikempfehlungen, in der englischsprachigen Fachzeitschrift „Representation“ veröffentlicht. Der Beitrag ist in seinem Aufbau an einer klassischen griechischen Tragödie orientiert und online bereits verfügbar: Theocharis, Yannis, und Jan W. van Deth (im Druck): A Modern Tragedy? Institutional Causes and Democratic Consequences of the Greek Crisis. Representation. ISSN: 0034-4893 (print); 1749-4001 (online); DOI: 10.1080/00344893.2015.1011464.

    Die verwendeten Daten basieren größtenteils auf dem „European Social Survey“ (ESS). Der ESS erhebt seit 2001 Daten über Einstellungen und Verhaltensmuster der Bevölkerung in mehr als 30 europäischen Ländern. Das MZES und die Universität Mannheim sind seit Bestehen des ESS an der deutschen Teilstudie beteiligt, vgl. http://www.mzes.uni-mannheim.de/d7/de/projects/gesellschaft-und-demokratie-in-eu....

    Prof. Dr. Jan W. van Deth
    Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
    Universität Mannheim
    Telefon: +49-621-181-2098
    Telefax: +49-621-181-2845
    E-Mail: jvdeth@uni-mannheim.de
    http://lspwivs.sowi.uni-mannheim.de

    Nikolaus Hollermeier
    Direktorat / Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES)
    Universität Mannheim
    Telefon: +49-621-181-2839
    Telefax: +49-621-181-2866
    E-Mail: nikolaus.hollermeier@mzes.uni-mannheim.de
    www.mzes.uni-mannheim.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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