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04.09.1998 00:00

Besser bevor oder nachdem? - Ein Blick in den Arbeitsspeicher unseres Gehirns

Christa Möller Stabsstelle Kommunikation
Medizinische Hochschule Hannover

    Studie zum Sprachverständnis in "nature" publiziert

    "Bevor der Wissenschaftler die Arbeit veröffentlichte, trank er eine Tasse Kaffee." - "Nachdem der Wissenschaftler die Arbeit veröffentlichte, trank er einen Kaffee." Auf den ersten Blick, so scheint es, zwei nahezu identische Sätze. Und doch sind sie so unterschiedlich, daß sich mit ihnen Wegweisendes in den Neurowissenschaften zeigen läßt. Um Mißverständnissen also gleich vorzubeugen: Hier geht es weder um Haarspalterei noch um kalten Kaffee, sondern um Sprachverarbeitung im Gehirn und die Kapazitäten unseres Speichers im Arbeitsgedächtnis. Die Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet von Professor Dr. Thomas F. Münte, Neurologische Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), wurden heute von der hochrenommierten Zeitschrift "nature" veröffentlicht - ein Ereignis, das in vielen Wissenschaftlerkarrieren nie vorkommt und über das sich die Hochschule in der Regel meist ein- oder zweimal im Jahr freuen kann.

    Unterzieht man die beiden Sätze einer genaueren Betrachtung, so sind sie zwar syntaktisch nahezu gleich, die Zeitachse der Informationsvermittlung ist jedoch gegeneinander verkehrt. Für den Zuhörer erweist sich der "Nachdem-Satz" dabei als der leichter verständlichere. Der Informationsgehalt dieser Aussage wird auf der Zeitachse nacheinander abgespult: erst die Veröffentlichung, dann der Kaffee. Beim "Bevor-Satz" hingegen muß man darauf warten, was der Wissenschaftler denn nun "vorher" tat (also den Kaffee trank). Die Information aus der vorderen Satzhälfte muß vom Gedächtnis sozusagen Bruchteile von Sekunden "mitgeschleppt" werden, um den hinteren Teil zu verstehen, ihn richtig auf der Zeitschiene einordnen zu können. Oder anders gesagt: Beim "Bevor-Satz" wartet unser Gehirn auf den zweiten Satzteil, um das zeitliche Ereignis des gesamten Satzes richtig konstruieren zu können - beim "Nachdem-Satz" kann das Gehirn gleich vom ersten Wort an mit der Verarbeitung loslegen.

    24 Versuchspersonen lasen nun diesen und 80 ähnliche Sätze auf einem Bildschirm; gleichzeitig wurden mittels 30 am Kopf befestigter Elektroden die Hirnpotentiale abgeleitet und gemessen. Die Ergebnisse sind eindeutig. Ein ganz bestimmtes Hirnareal - der linke präfrontale Kortex - wird bei dem Bevor-Satz deutlich stärker beansprucht, das Arbeitsgedächtnis muß mehr leisten. Im Untersuchungsbild zeigt sich dies in der Stärke des elektrischen Signals über der linksseitigen Hirnrinde. Zugleich stellten die Wissenschaftler fest, daß die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses bei den Versuchspersonen große Unterschiede aufwiesen - ein Ergebnis, das weitergehende Betrachtungen ermöglichte.

    Das Team um Professor Münte konzentrierte sich jetzt auf zwei Gruppen von Probanden: solche mit einer großen und solche mit einer kleinen Kapazität des Arbeitsspeichers im Gehirn. Auch diese lasen nun wieder Sätze vom Typ "bevor" und "nachdem". Erstaunlicherweise wurden bei den einfacheren "Nachdem-Sätzen" sowohl in der ersten als auch der zweiten Satzhälfte kaum Differenzen in den Hirnpotentialen gemessen. Große Unterschiede beobachteten die Wissenschaftler hingegen beim "Bevor-Satz", der von den Versuchspersonen mit größerem Arbeitsspeicher deutlich besser bewältigt wurde. Der Arbeitsspeicher funktioniert also bei den meisten Menschen bis zu einem individuell verschiedenen Punkt nahezu gleich gut; ist die Kapazitätsgrenze erreicht, sinkt die Verständnisfähigkeit eines Sachverhalts rapide.

    Welche Relevanz haben nun die Ergebnisse? Zum einen sicher die, daß man gerade als Journalist oder Mitarbeiter einer Pressestelle sicher noch sorgfältiger auf Sprache und sein Gesprochenes achten sollte. Aber auch die Bedeutung für Patienten ist nicht zu unterschätzen. So haben etwa Parkinson-Patienten große Schwierigkeiten, die "Bevor-Sätze" überhaupt zu verstehen. Nach Ansicht Professor Müntes ein deutlicher Hinweis auf ein gestörtes Arbeitsgedächtnis bei den Betroffenen. Mit den Tests läßt sich zudem quantifizieren, in welchem Ausmaß es gestört sein könnte. In einer kürzlich begonnenen Studie wird jetzt überprüft, wie sich eine neue Parkinsontherapie - die sogenannte tiefe Hirnstimulation - auf das Arbeitsgedächtnis auswirkt. Nicht zuletzt sind diese Ergebnisse auch ein wichtiger Ansatz für die Sprachtherapie als solche. Und sie helfen ein Stückweit mehr zu verstehen, wie das Gehirn Sprache verarbeitet.

    Professor Dr. Thomas Münte arbeitet seit 1985 in der Neurologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover. Seine Untersuchungen zum Sprachverständnis führte er teilweise durch als Gastprofessor am Department of Cognitive Science der renommierten University of California in San Diego, USA; gefördert wurde er durch eine Hermann- und Lilly-Schilling-Professur. Professor Münte wird im kommenden Wintersemester den Lehrstuhl für Neuropsychologie im Klinikum der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg vertreten.

    Weitere Auskünfte gibt Professor Dr. Thomas Münte gern unter Telefon (0511) 5 32 - 37 40 oder 5 32 - 23 91. Sie erreichen ihn auch per E-mail: muente.thomas@mh-hannover.de.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Medizin, Psychologie, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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