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06.06.2003 10:28

Mythen und ihre Korrekturen: Bremer Tagung betritt literaturwissenschaftliches Neuland

Angelika Rockel Hochschulkommunikation und -marketing
Universität Bremen

    Mythen sind Geschichten, die immer wieder erzählt werden. Sie lassen sich nicht auf bestimmte Texte oder Autoren zurückführen, aber sie basieren auf einem stabilen "narrativen Kern". Die Figuren und Handlungselemente verfügen über erstaunlich feste Muster. Und dennoch: Die Mythen sind zugleich ungemein wandlungsfähig und variationsreich. Das Bedürfnis, sie zu überliefern, ist ein Indiz dafür, dass in den Mythen wichtige, traumatische Konflikte aus der (Gewalt-) Geschichte der Menschheit zur Sprache kommen, die faszinieren und zu immer neuen Auslegungen reizen.

    Viele Autoren "berichtigen" die ursprünglichen Geschichten durch außergewöhnliche Ideen: So wird Sisyphos bei Albert Camus zu einem "glücklichen Menschen", Medusa bei Walter Jens zur "schönen Frau", Achilles wird von Christa Wolf als "Vieh" bezeichnet und Roger Loewig findet den Sturz des Ikaros beneidenswert. Scheinbar vertraute Konstellationen werden aufgebrochen, so dass Denkbilder von hoher Eindringlichkeit entstehen. Mit ihren verblüffenden Pointen entfalten die Žneuen` Mythen eine gesteigerte Spannung.

    Doch in der Literaturwissenschaft ist das poetische Verfahren der Mythenkorrektur noch weitgehend unerschlossen. In zahlreichen Abhandlungen zu bekannten Geschichten von Kafka, Brecht, Camus oder Wolf werden Berichtigungen zwar nicht übersehen, jedoch nur punktuell behandelt und weder in ihrem literarischen Zusammenhang noch in ihrer Vielfalt begriffen. Um diese Lücke innerhalb der Literaturwissenschaft ansatzweise auszufüllen, veranstaltet das Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien der Universität Bremen gemeinsam mit dem Seminar für Klassische Philologie der Freien Universität Berlin vom 13. bis 15. Juni 2003 die internationale Tagung "Mythenkorrekturen". Die Konferenz, an der 15 namhafte Referenten und 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland teilnehmen, findet auf Initiative der Professoren Wolfgang Emmerich (Uni Bremen) und Bernd Seidensticker sowie Dr. Martin Vöhler (beide FU Berlin) statt. Unterstützt wird die Tagung und das Rahmenprogramm von der Fritz Thyssen Stiftung in Düsseldorf, der Universität Bremen und der Sparkasse Bremen.

    Die Produktivität des Mythos resultiert aus vielfältigen Momenten: aus der Lust am Wiedererkennen und an der Variation, aus dem antagonistischen Verhältnis zur Tradition und schließlich aus der ŽUnplausibilität` des ursprünglichen Mythos, die den Korrektor geradezu herausfordert, die Handlung so zu erfinden, dass sie plausibel wirkt. Auch wenn die Mythen zahlreichen Veränderungen unterworfen werden, sind sie doch stets im Kern sofort erkennbar. Das anhaltende Interesse am mythischen Erzählen ist allerdings nicht allein aus Freude an Spiel und Erfindung zu verstehen. Mythen distanzieren und erklären auch das Schreckliche und Unerklärliche der Welt. Das Bedürfnis, sie zu überliefern, ist ein Indiz dafür, dass in den Mythen wichtige, traumatische Konflikte aus der (Gewalt-) Geschichte der Menschheit zur Sprache kommen, die faszinieren und zu immer neuen Auslegungen reizen. Dies gilt in besonderem Maße für die griechischen Mythen, die sich als exemplarische Darstellungen und Deutungen der abendländischen Zivilisation lesen lassen.

    Zu besonders markanten Veränderungen führt das Verfahren der literarischen Mythenkorrektur. Sie erweckt den Eindruck, sich nicht gegen den Mythos überhaupt, sondern nur gegen eine bestimmte Überlieferungstradition zu richten. Diese Tradition soll korrigiert, Žberichtigt` werden. Bertolt Brecht hat dieses Verfahren in drei Erzählungen unter dem Titel "Berichtigung alter Mythen" paradigmatisch vorgestellt. So heißt es in der Erzählung des Sirenenabenteuers: "Das ganze Altertum glaubte dem Schlauling (sc. Odysseus) das Gelingen seiner List. Sollte ich der erste sein, dem Bedenken aufsteigen?." Die "Bedenken" führen den Autor zum Zweifel und erlauben ihm eine grundlegende Korrektur der Geschichte, nach der die Sirenen nunmehr ihren Gesang verweigern und den "verdammten, vorsichtigen Provinzler" mit geblähten Hälsen beschimpfen. Der Anspruch auf Originalität wird ironisch gebrochen, denn Brecht folgt Kafkas Vorgaben ebenso, wie er sie seinerseits noch zu überbieten versucht. Der Mythos wird gegen die Tradition gelesen. Freilich darf man sich nicht täuschen lassen: Auch moderne Autoren wollen Recht behalten mit ihren Mythenkorrekturen, nach Maßgabe ihrer Vernunft und Geschichtsphilosophie den wahren, jetzt historisch stimmigen Kern des jeweiligen Mythos freilegen. Moderne Mythenkorrekturen fungieren ebenso als Sinnstiftungsmodelle wie die vermeintlich Žursprünglichen` Fassungen. In der Nachfolge Kafkas und Brechts hat das Verfahren der Mythenkorrektur in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine hohe Attraktivität gewonnen.

    Im Rahmen der Konferenz soll die Unterscheidung zwischen der Mythenrezeption im Sinne einer ŽArbeit am Mythos`, der ŽMythenkorrektur` und der philosophischen Mythenkritik (die von außen an den Mythos herantritt und ihn als Lügengeschichte diskreditiert) präzisiert werden. Als Vorgehensweise bietet sich eine Verbindung von theoretischer Orientierung und exemplarischer Deutung an. Schließlich setzt die Tagung einen Schwerpunkt bei Mythenkorrekturen auf dem deutschsprachigen Theater von 1945 bis zur Gegenwart. Insbesondere in den 70-er und 80-er Jahren ist eine Vielzahl von ŽAntikenprojekten` prominenter Regisseure an führenden Theatern zu verzeichnen (Klaus Michael Grüber, Dieter Sturm und Peter Stein an der Berliner Schaubühne, Benno Besson an der Ostberliner Volksbühne, Alexander Lang am Deutschen Theater, Roberto Ciulli in Mülheim/Ruhr, Hansgünter Heyme in Essen, George Tabori in München u. a. m.), die die griechischen Mythen vornehmlich in der Version der berühmten Tragödientexte durch die Art und Weise der Inszenierung umdeuteten, korrigierten.

    Dass die Tagung in Bremen in Bremen auf großes Interesse stößt, zeigt einmal die Teilnahme renommierter Referenten und nicht zuletzt die öffentlichen Veranstaltungen. So spricht Professor Christoph Jamme (Uni Lüneburg) am Freitag, den 13. Juni 2003 ab 20:15 Uhr in der Villa Ichon über "Mythos und Wahrheit". Am Samstag, den 14. Juni liest dann Durs Grünbein (Berlin) um 20:15 Uhr in der Stadtwaage.

    Weitere Informationen:

    Universität Bremen
    Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
    Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien
    Matthias Wilde
    Tel. 0421 218 2559
    E-Mail mwilde@uni-bremen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Psychologie, Sprache / Literatur
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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