idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
08.03.2016 09:57

Depressionen behandeln: Psychopharmaka sind nicht für jeden Betroffenen die beste Lösung

Dr. Anne Klostermann Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs)

    Behandlungen mit Psychopharmaka können nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn zusammen mit der Behandlung auch die Umwelt und das Verhalten der Patienten stimuliert werden. Zu diesem Schluss kommt ein interdisziplinäres Forschungsteam aus klinischen Psychologen, Psychobiologen, Neurowissenschaftlern und Psychiatern. In einer Zusammenschau von über 150 Arbeiten analysierten die Wissenschaftler Erkenntnisse aus Placebostudien, Untersuchungen zur Neuroplastizität und Tierstudien. Die Ergebnisse sind kürzlich in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift „Neuroscience and Biobehavioral Reviews“ erschienen.

    Placebos wirken fast so gut wie Medikamente

    Psychopharmaka lindern die Symptome bei Störungen wie Depression oder Schizophrenie häufig, aber sie tun es nicht immer. Es gibt immer stärkere Hinweise darauf, dass es eine Reihe von Umgebungsbedingungen gibt, die die Wirksamkeit günstig beeinflussen.
    So zeigen Studien zur Wirkung von Psychopharmaka, dass Placebo-Reaktionen oft sehr hoch sind, manchmal wirken sie ebenso gut wie Medikamente. Detailliertere Analysen der Placebo-Reaktion zeigen, dass die Erwartungen der Patienten an die Behandlung, ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Medikament und die therapeutische Beziehung wichtige Umgebungsbedingungen sind, die einen Einfluss auf die Wirkung haben.

    Neuroplastizität

    Der Mensch ist einer sich ständig ändernden Umwelt ausgesetzt. Das verlangt eine hohe Anpassungsfähigkeit, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Grundvoraussetzung für die Anpassungsleistung ist die Fähigkeit des Gehirns, sich kontinuierlich durch neue Reize zu verändern, also zu lernen. Diese Fähigkeit wird als Neuroplastizität bezeichnet. Hohe Neuroplastizität ist eine wichtige Voraussetzung für psychische Gesundheit. Aus der bisherigen Forschung vermutet man, dass eine verminderte Neuroplastizität dazu beiträgt, dass psychische Störungen wie zum Beispiel Depressionen entstehen beziehungsweise chronifizieren.

    Tierstudien: positive Umgebung kann Wirkung unterstützen

    Tierstudien zeigen, dass Antidepressiva an diesem Punkt ansetzen und Veränderungen der Plastizität anregen. Der Netzwerkhypothese zufolge ist das Gehirn in der Zeit der Umstrukturierung besonders empfänglich für alle Reize und Erfahrungen, die aus der Umwelt kommen. Diese Reize können sowohl die Richtung als auch die Höhe der Plastizität beeinflussen.In den meisten psychopharmakologischen Studien wurde dem Kontexteffekt bislang wenig Beachtung geschenkt.
    In neueren Tierstudien konnte die Umwelt jedoch so kontrolliert werden, dass Behandlungsverläufe mit Psychopharmaka auf unterschiedliche Umwelteinflüsse zurückgeführt werden können. Die Ergebnisse zeigen: Positive, angereicherte Umwelten, (wie zum Beispiel viele soziale Kontakte zu Artgenossen), verbesserten den Behandlungsverlauf erheblich. Schädliche Umwelten hingegen (wie zum Beispiel eine karge Gestaltung der Umgebung, wenig soziale Kontakte) verschlechterten den Behandlungsverlauf ernstlich. „Dies bedeutet, dass ungünstige Umgebungseinflüsse die Medikamentenwirkung nicht nur abschwächen, sondern das Medikament sogar zur schädlichen Droge machen können“, sagt Winfried Rief. „Keine medikamentöse Behandlung wäre hier die bessere Alternative.“

    Empfehlungen für die Behandlung

    „Unsere Zusammenschau einschlägiger Studien zeigt, dass Psychopharmaka nicht für jeden Betroffenen die Therapie erster Wahl sind“, sagt Winfried Rief. „Für manche Patienten wäre es nach einer gründlichen Kosten-Nutzen-Abwägung besser, wenn sie eine Placebo-Medikation oder eine aktiv-abwartende Begleitung, das „watchful waiting“, erhielten. Gerade bei nur mittelschwer Ersterkrankten oder bei wenig unterstützenden Umgebungsbedingungen sollte die Entscheidung zur medikamentösen Behandlung zurückhaltender getroffen werden. Der Einsatz von Antidepressiva macht nur Sinn, wenn man begleitend schaut, dass positive Umgebungseinflüsse den Heilungsprozess unterstützen. Das kann beispielsweise durch eine Psychotherapie gefördert werden“, sagt Winfried Rief.
    Durch die begleitende psychotherapeutische Behandlung sollte sowohl eine störungsspezifische Therapie erfolgen, als auch weitere Interventionen zur Stimulation allgemeiner Verhaltens- und Umweltbedingungen, die die Sozialkontakte verbessern die körperliche Aktivität steigern. Auch bekannte Placebo-Mechanismen können in positiver Weise den Heilungsverlauf unterstützen. So erlaubt eine positive therapeutische Beziehung, positive Erwartungen an den Ausgang der Therapie zu entwickeln und eventuelle Befürchtungen und Ängste zu entkräften.

    Die Originalstudie finden Sie hier:
    Rief, W., Barsky, A.J., Bingel, U., Doering, B.K., Schwarting, R., Wöhr, M., & Schweiger, U. (2016). Rethinking psychopharmacotherapy: The role of treatment context and brain plasticity in antidepressant and antipsychotic interventions. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 60, 51-64.
    www.dx.doi.org/10.1016/j.neubiorev.2015.11.008

    Weitere Informationen:
    Prof. Dr. Winfried Rief
    Leiter Psychotherapie-Ambulanz Marburg & AG Klinische Psychologie und Psychotherapie
    Fachbereich Psychologie
    Philipps-Universität Marburg
    Gutenbergstraße 18
    D-35032 Marburg
    Tel.: 06421 282 (Sekr.)
    Mail: rief@staff.uni-marburg.de

    Pressestelle der DGPs:
    Dr. Anne Klostermann
    Referentin für Öffentlichkeitsarbeit
    Tel.: 030 28047718
    E-Mail: pressestelle@dgps.de

    Über die DGPs:
    Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs e.V.) ist eine Vereinigung der in Forschung und Lehre tätigen Psychologinnen und Psychologen. Die über 3800 Mitglieder erforschen das Erleben und Verhalten des Menschen. Sie publizieren, lehren und beziehen Stellung in der Welt der Universitäten, in der Forschung, der Politik und im Alltag. Die Pressestelle der DGPs informiert die Öffentlichkeit über Beiträge der Psychologie zu gesellschaftlich relevanten Themen. Darüber hinaus stellt die DGPs Journalisten eine Datenbank von Experten für unterschiedliche Fachgebiete zur Verfügung, die Auskunft zu spezifischen Fragestellungen geben können. Wollen Sie mehr über uns erfahren? Besuchen Sie die DGPs im Internet: www.dgps.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).