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13.04.2016 12:07

Die Atomkatastrophe im Kopf: Langzeitfolgen von Tschernobyl jenseits der Strahlung

Dipl.-Journ. Constantin Schulte Strathaus Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

    Welche psychischen Langzeitfolgen hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die sich am 26. April zum 30. Mal jährt, und wie wirken sich diese auf die ukrainische Volkswirtschaft aus? Diesem Fragenkomplex gingen Prof. Dr. Alexander Danzer (Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikroökonomik, an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt) und Dr. Natalia Danzer (stellvertretende Leiterin des Ifo Zentrums für Arbeitsmarktforschung und Familienökonomik am Ifo Institut München) in einer Studie nach. Veröffentlicht wurde diese nun im „Journal of Public Economics“.

    „Seit der Katastrophe wendet die Ukraine jährlich 5 bis 7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf, um das zerstörte Kraftwerk und die Umgebung zu sichern und zu dekontaminieren sowie Betroffene zu kompensieren“, erklären die beiden Autoren. Die tatsächlichen Folgen und Kosten seien jedoch weit höher als diese Summe: Das Reaktorunglück von Tschernobyl habe in weiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung eine starke Verunsicherung erzeugt, die sich seit mittlerweile drei Jahrzehnten negativ auf die Lebenszufriedenheit und die mentale Gesundheit von Millionen Menschen ausgewirkt habe. „Erstaunlicherweise trifft dies auch auf die breite Masse der Bevölkerung zu, die nicht von gesundheitlich bedenklichen Strahlenwerten betroffen waren. Eine monetäre Evaluation des gesamtgesellschaftlichen Verlusts an mentaler Gesundheit und Wohlbefinden deutet auf zusätzliche Kosten in Höhe von 3 bis 6 Prozent des BIP pro Jahr hin, was einem Wert zwischen 4 und 8 Milliarden US-Dollar entspricht“, erklären Natalia und Alexander Danzer.

    Für ihre Studie nutzen sie eine ukrainische repräsentative Langfristbefragung der Jahre 2003-2007 zum psychischen Wohlbefinden. Um eine Vermischung von psychologischen und körperlichen Langfristfolgen zu vermeiden, enthielt die Stichprobe ausschließlich Personen, die über geringe Strahlungsexposition und keinerlei klinisch nachweisbare körperliche Langzeitfolgen verfügen. In den Monaten nach dem Unfall überstieg die zusätzliche Caesium-137 Strahlendosis in keiner Region der Stichprobe 2,1 Millisievert (mSv), im Durchschnitt lag sie bei zusätzlich lediglich 1 mSv pro Jahr. Zum Vergleich: Die natürliche kosmische Strahlung in der Ukraine beträgt jährlich etwa 2 MSv. Dennoch befürchte auch diese Personengruppe, im Durchschnitt drei Jahre kürzer zu leben. Viele Ukrainer berichteten einen Rückgang ihrer Lebenszufriedenheit. Unwissenheit und Verunsicherung lösten chronische Angstgefühle und Depressionen aus. „Die unzureichende und widersprüchliche Informations- und Aufklärungsarbeit führte zur Verunsicherung in der Bevölkerung und wurde zu einem idealen Nährboden für Gerüchte über mögliche gesundheitliche Folgen“, erklären die Autoren.

    Bezogen auf die ukrainische Bevölkerung führen psychische Erkrankungen zu staatlichen Transferleistungen an die Betroffenen in Höhe von 0.5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Lege man Berechnungen zur generell gesunkenen Lebenszufriedenheit zugrunde, ergebe sich ein Wohlstandverlust zwischen 2,5 und 5,5 Prozent des BIP. „Unsere Berechnungen zeigen, dass die Berücksichtigung der vormals ignorierten mentalen Kosten zu einer Verdoppelung der staatlichen Katastrophenausgaben führen können.“ Zur seriösen Bewertung von Reaktorkatastrophen sei es essentiell, alle denkbaren direkten und indirekten Folgekosten zu berücksichtigen. Zudem zeige sich anhand der Ergebnisse aus der Ukraine die immense Bedeutung eines effizienten und glaubwürdigen Katastrophenmanagements.

    Aufgrund der enormen Ausmaße von Katastrophen wie in Tschernobyl oder Fukushima würden die Gesamtkosten für gewöhnlich sozialisiert und vom Steuerzahler getragen, und das unabhängig davon, ob Atomkraftwerke privat oder staatlich betrieben werden. „Soziale Wohlfahrtsverluste im Katastrophenfall müssten daher in realistische und umfassende Kosten-Nutzen-Analysen der Energieerzeugung miteinfließen“, resümieren die Autoren.

    Literatur:
    Danzer, Alexander M. und Natalia Danzer (2016): „The Long-Run Conse-quences of Chernobyl: Evidence on Subjective Well-Being, Mental Health and Welfare“, Journal of Public Economics, Volume 135, March 2016, Pages 47-60, ISSN 0047-2727


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Psychologie, Umwelt / Ökologie, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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