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24.06.2003 13:38

Absolventen von Lernbehindertenschulen: Disqualifiziert fürs Leben

Dr. Antonia Rötger Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

    Bildungsforscher plädieren für stärkere Integration von Kindern mit Lernschwierigkeiten in die Regelschulen.

    Drei Viertel der Absolventen von Lernbehindertenschulen haben am Ende ihrer Schulzeit ähnliche Berufswünsche wie ihre Altersgenossen auf Haupt- und Realschulen und sind hoch motiviert, ihre Zukunft durch eine Berufsausbildung zu sichern. Doch nach dem Verlassen der Schule kommt die Ernüchterung: Zwei Drittel der Jugendlichen landen in berufsvorbereitenden Maßnahmen, Förderlehrgängen, schulischen Ausbildungen, oder dem zweiten Arbeitsmarkt; die anderen machen gar keine Ausbildung. Das Stigma "lernbehindert" verringert ihre Chancen, sogar wenn sie zu den 20% der Absolventen gehören, die einen Hauptschulabschluss erworben haben. Die Rehabilitationsberater der Arbeitsämter berichten, dass sie circa 95% der Jugendlichen aus Lernbehindertenschulen zunächst in eine der oben genannten Maßnahmen kanalisieren. Das institutionelle Förderspektrum für marktbenachteiligte Jugendliche wurde in den vergangenen Jahren stark ausgeweitet. Dies birgt jedoch auch die Gefahr, dass diese Jugendlichen von einer Warteschleife in die nächste geschickt werden.
    Dies sind Resultate aus einem Modellprojekt, das von den Soziologen Sandra Wagner und Justin Powell des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) wissenschaftlich begleitet wurde. In diesem Projekt "Jobcoaching" der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln haben Studenten und Studentinnen Jugendliche aus Schulen für Lernbehinderte als "Jobcoaches" bei ihrer Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einer Arbeitsstelle unterstützt.
    Dabei wurden die Sonderschüler auch eingehend zu ihren Hoffnungen, ihrer Motivation, ihrer Herkunft und Familiensituation befragt. 103 Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren gaben Auskunft. Davon waren 43 Mädchen und 60 Jungen, ein Verhältnis, das die Überrepräsentanz von Jungen auf den Lernbehindertenschulen spiegelt. Doch nicht nur das männliche Geschlecht ist besonders stark auf den Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen vertreten, sondern auch Kinder aus sozial schwachen Familien und insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund. Diese Tatsache haben Wagner und Powell schon in früheren Studien nachgewiesen. "Sprachliche Defizite werden oft vorschnell in eine Lernbehinderung umgedeutet", erklärt Sandra Wagner. Im deutschen Bildungssystem werden Kinder, die nicht mitkommen, ausgegliedert und an Spezialeinrichtungen verwiesen, wo sie theoretisch besonders gefördert werden sollen. Doch in der Praxis scheint dies immer weniger zu gelingen: Dort wo sich "Kinder mit Problemen" häufen, wie eben in den Sonderschulen, haben sie es auch besonders schwer, sich gegenseitig anzuregen und zu unterstützen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass die Lernfortschritte von Kindern in Lernbehindertenschulen deutlich hinter denen zurückbleiben, die Kinder mit ähnlichen Lernschwierigkeiten in Regelschulen machen können. Die starke Schichtung des deutschen Bildungssystems hat zur Folge, dass die Schwächsten ganz besonders wenig lernen.
    Dabei müsste die Integration von Schülern mit bestimmten Schwierigkeiten keineswegs die Spitzenschülerinnen und -schüler ausbremsen oder die Gesamtleistung mindern: Wie die internationale Schulleistungsstudie PISA zeigte, lassen sich mit leistungsheterogenen Klassen durchaus auch sehr gute Ergebnisse erzielen.
    Justin Powell hat einen weiteren Effekt der starken Segregation beobachtet: "Die Schüler an Lernbehindertenschulen können sich nicht am Maßstab des Normalen orientieren und entwerfen daher oft unrealistische Ziele. Die Enttäuschung ist dann umso größer, wenn sie mit der Realität zusammenstoßen."
    Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund profitierten besonders vom Jobcoaching: Die Hilfe durch den Coach erwies sich als wesentlich bedeutsamer bei der Lehrstellensuche als die Unterstützung durch die eigene Familie. "Die Eltern dieser Jugendlichen hatten oft selbst keinen Schulabschluss und nur wenig Wissen über Ausbildung. Die Job-Coaches konnten eine Brücke in die Arbeitswelt schlagen," erklärt Sandra Wagner.
    Wagner und Powell geben zu bedenken, dass die Überweisung von Schülerinnen und Schüler auf Sonderschulen langfristige Folgen für deren Leben hat. Es könnte effizienter sein, SonderpädagogInnen sowie mehr SozialarbeiterInnen und SchulpsychologInnen auf Regelschulen einzusetzen, wo sie Kinder mit Lernschwierigkeiten unterstützen. Vielen ausländischen Kindern wäre mit Sprachunterricht, sowohl in Deutsch als Zweitsprache als auch in ihrer Muttersprache, schneller geholfen, als mit einer Sonderschulkarriere, die im gesellschaftlichen Abseits endet.

    Hinweis an die Redaktionen: Sandra Wagner und Justin Powell arbeiten in der Nachwuchsgruppe "Ausbildungslosigkeit" unter der Leitung von Dr. Heike Solga. Wagner und Powell haben sich auf die benachteiligten Gruppen im Bildungswesen spezialisiert und beantworten gerne weitere Fragen. Sandra J. Wagner (030/82406-260, jwagner@mpib-berlin.mpg.de) untersucht auch die historische Entwicklung der Hauptschulen in Deutschland, Justin Powell (030/82406-260, powell@mpib-berlin.mpg.de) vergleicht auch die Sonderschulsysteme in Deutschland mit denen in den USA.

    Literatur:
    Beiträge von Sandra J. Wagner und Justin Powell zur Problematik der Sonderschulen finden Sie in folgendem Buch:
    Wie man behindert wird - Texte zur Konstruktion einer sozialen Rolle und zur Lebenssituation von betroffenen Menschen. Materialien zur Soziologie der Behinderten, Band 1; Edition S, Günther Cloerkes (Hrsg.), Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg, (2003). ISBN 3-8253-8305-9


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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