Tübingen, den 28.11.2016. Wissenschaftler des Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen haben herausgefunden, dass Neandertaler auch ohne äußere Einflüsse, wie Umwelt- oder Klimaveränderungen ihre Überlebensstrategien variierten. Mit einer neuen Methode zeigen sie anhand von Karbonatisotopie an fossilen Zähnen, dass die Vorfahren der heutigen Menschen vor 250.000 Jahren moderner in ihrer Entwicklung waren als bisher gedacht. Die neuen Ergebnisse sollen dabei helfen, die Entwicklung des modernen Menschen zu verstehen. Die Studie wurde kürzlich im Fachjournal „Quaternary Science Reviews“ veröffentlicht.
Wird das Klima kälter oder wärmer, müssen sich Arten in ihrer Überlebensstrategie anpassen – dies gilt auch für unsere Vorfahren, die ausgestorbenen Neandertaler. „Wir haben nun herausgefunden, dass sich die Neandertaler aber auch ohne äußere Einflüsse weiterentwickelt haben. Sie waren damit dem modernen Menschen ähnlicher als wir bisher vermutet haben“, erklärt Prof. Dr. Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen.
Ein internationales Team rund um den Tübinger Biogeologen hat hierfür Fossilien der Fundstelle Payre im Südosten Frankreichs mit einer neuen Methode untersucht. „Wir haben Karbonat aus den Zähnen mehrerer fossiler Neandertaler-Kinder untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass unsere Vorfahren vor 250.000 Jahren schon unterschiedliche Strategien des Überlebens entwickelten – auch wenn die Umwelt- und Klimabedingungen konstant waren.“ Karbonat ist ein wesentlicher mineralischer Bestandteil des Hartgewebes in Knochen und Zähnen. Die Isotopenzusammensetzung im Karbonat spiegelt unter anderem die Trink- und Nahrungsgewohnheiten von Organismen wider.
Um etwas über den Lebensraum der jungen Neandertaler zu erfahren, untersuchten Bocherens und seine Kollegen auch die Isotopenzusammensetzung im Karbonat von pflanzen- und fleischfressenden Großsäugetieren. „Die Kohlenstoff- und Sauerstoffisotope der in diesem Zeitabschnitt lebenden Pferde, Rothirsche, Nashörner, Wölfe und Hyänen waren stabil. Wir können also davon ausgehen, dass in dieser Zeit auch keine Änderungen in den Umweltverhältnissen vorlagen.“
Die Neandertal-Fossilien dagegen zeigen, dass eine Gruppe überwiegend im Tal Nashörner und Pferde jagte, während die andere Gruppe sich auf die Jagd nach Rotwild in der Hochebene spezialisierte. „Etwa zur selben Zeit begaben sich unsere Vorfahren in Schöningen mit hölzernen Speeren auf die Jagd nach Pferden. Wir sehen demnach vor 250.000 Jahren drei verschiedene Methoden sich die Umwelt zu erschließen und zunutze zu machen – die Hominiden haben hier einen Punkt erreicht der eindeutig zum Verhalten moderner Menschen führt“, ergänzt Bocherens.
Die von Bocherens und seinen Kollegen entwickelte Methode, Karbonat aus fossilen Zahnschmelz zu untersuchen, birgt großes Potential: Anhand von Knochenkollagen war es bisher nur möglich, Aussagen über Fossilien zu treffen, die jünger als 100.000 Jahre alt sind. Nach diesem Zeitraum ist in den Knochen noch sehr selten verwertbares Kollagen erhalten. Im Zahnschmelz wird Karbonat und die darin enthaltenen Informationen aber sehr viel länger konserviert. „Ich bin sehr gespannt, welche Erkenntnisse uns diese Methode bei älteren Menschenfossilien noch bringen wird“, gibt Bocherens einen Ausblick.
Kontakt
Prof. Dr. Hervé Bocherens
Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeo-environment (HEP)
Eberhard Karls Universität Tübingen
Tel. 07071- 29-76988
herve.bocherens@uni-tuebingen.de
Judith Jördens
Pressestelle
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Tel. 069- 7542 1434
pressestelle@senckenberg.de
Publikation
Hervé Bocherens, Marta Díaz-Zorita Bonilla, Camille Daujeard, Paul Fernandes, Jean-Paul Raynal, Marie-Hélène Moncel, Direct isotopic evidence for subsistence variability in Middle Pleistocene Neanderthals (Payre, southeastern France), Quaternary Science Reviews, Volume 154, 15 December 2016, Pages 226-236, ISSN 0277-3791, http://dx.doi.org/10.1016/j.quascirev.2016.11.004.
Die Natur mit ihrer unendlichen Vielfalt an Lebensformen zu erforschen und zu verstehen, um sie als Lebensgrundlage für zukünftige Generationen erhalten und nachhaltig nutzen zu können - dafür arbeitet die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung seit nunmehr fast 200 Jahren. Diese integrative „Geobiodiversitätsforschung“ sowie die Vermittlung von Forschung und Wissenschaft sind die Aufgaben Senckenbergs. Drei Naturmuseen in Frankfurt, Görlitz und Dresden zeigen die Vielfalt des Lebens und die Entwicklung der Erde über Jahrmillionen. Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main wird von der Stadt Frankfurt am Main sowie vielen weiteren Partnern gefördert. Mehr Informationen unter www.senckenberg.de.
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Zahn eines Neandertalers aus der Fundstelle Payre.
© Marie-Hélène Moncel
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An der Fundstelle wurden auch viele tierische Überreste gefunden. Hier ein Zahn eines Nashorns.
© Marie-Hélène Moncel
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Geowissenschaften, Geschichte / Archäologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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