idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
30.01.2017 10:13

Studie zu Flugzeugabsturz: Forscher mahnen kritischen Umgang mit technischen Systemen an

Katrin Müller Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Technische Universität Kaiserslautern

    Als die Air France Maschine 447 im Juni 2009 in den Atlantik stürzte, kamen 228 Menschen ums Leben; vermeintlich wegen eines technischen Fehlers. Ursache war jedoch das Wechselspiel zwischen Mensch und Maschine. In einer aktuellen Studie gehen Professor Dr. Gordon Müller-Seitz aus Kaiserslautern und Dr. Olivier Berthod aus Berlin der Frage nach, wie die komplexe Technik an Bord, die eigentlich die Sicherheit des Fluges gewährleisten soll, dazu führt, dass Piloten sich bei einer Fehlermeldung derart unter Stress setzen lassen und falsch handeln. Die Forscher mahnen einen kritischen Umgang mit technischen Systemen an und empfehlen klare Führungsstrukturen im Cockpit.

    Gemeinsame Pressemeldung der Technischen Universität Kaiserslautern und der Freien Universität Berlin

    Wissenschaftler der Technischen Universität Kaiserslautern und der Freien Universität Berlin analysieren Zusammenspiel von Mensch und Maschine anhand eines eines Flugzeug-Absturzes aus dem Jahr 2009. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „Journal of Management Inquiry“ erschienen.

    Während des Flugs von Brasilien nach Frankreich über dem Atlantik muss es für die Piloten so gewesen sein, als schauten sie auf einen schwarzen Bildschirm. „Es war mitten in der Nacht. Alles um sie herum war dunkel. Sie konnten sich nur auf den Autopiloten und die Bordautomatik verlassen, sodass sie auch nicht sehen konnten, in welcher Lage sich das Flugzeug tatsächlich befand“, sagt Professor Müller-Seitz, der an der Technischen Universität Kaiserslautern zum Fachgebiet Strategie, Innovation und Kooperation forscht.

    Als die Messinstrumente plötzlich falsche Daten zur Geschwindigkeit anzeigten, saß der Copilot mit der geringsten Erfahrung am Steuer, neben ihm saß der zweite Copilot, der Kapitän hatte sich zuvor zu einer Pause aus dem Cockpit zurückgezogen. Der Copilot leitete umgehend einen Steigflug ein. Später haben viele diesen Schritt als Panikreaktion eingestuft. Im Untersuchungsbericht waren die Experten sich jedoch nicht sicher, ob der Copilot so gehandelt hat, weil die falschen Werte ihm einen Sinkflug angezeigt haben. „Zur Fehlermeldung ist es gekommen, da die Messsensoren eingefroren waren und falsche Daten geliefert haben“, so der Professor weiter. In der Folge des Steigflugs erreichte das Flugzeug einen derart extremen Winkel, dass es zu einem Strömungsabriss kam. „Mittlerweile waren die Sensoren wieder aufgetaut und haben richtige Angaben geliefert, die die Piloten nicht mehr einordnen konnten. Ziemlich schnell wurde es aber zu spät, gegenzusteuern. Die Maschine prallte kurze Zeit später auf dem Meer auf“, sagt Olivier Berthod, der zur Organisationstheorie an der Freien Universität Berlin forscht.

    Die beiden Strategie- und Organisationsforscher beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit der sogenannten Soziomaterialität. „Hier geht es um das Zusammenspiel von Mensch und Maschine“, so Müller-Seitz weiter. „Und wie die Handlungen von Maschine und Mensch aufeinander aufbauen und deswegen eskalieren können“, ergänzt Berthod. Für ihre Studie haben sie die Auswertungen des Flugschreibers („Black Box“), die Aufzeichnung der Gespräche im Cockpit und weitere Unterlagen analysiert. „Beispiele wie diese zeigen, welche Folgen es haben kann, wenn der Mensch sich zu sehr auf solche automatisierten Systeme verlässt und ihre Zusammenhänge aus dem Blick verliert“, sagt Berthod.

    „Die Copiloten waren mit der Situation überfordert und einer großen emotionalen Belastung ausgesetzt. Ihnen fehlte die notwendige Erfahrung, sie verfielen direkt in Stress und Panik, anstatt Ruhe zu bewahren und als Team nach einer Lösung zu suchen“, fährt Müller-Seitz fort. „Klare Führungsstrukturen und eine geregelte Organisation sind in solchen Situationen daher zwingend erforderlich. Sie beugen einem vorschnellen Handeln und Fehlern vor.“

    Wichtig sei es aber auch, sich mit solch komplexer autonomer Technik vertraut zu machen. „Nur so kann man sie verstehen und erkennen, was hinter möglichen Fehlermeldungen steckt und wie der Benutzer diese gegebenenfalls durch sein Handeln eskalieren lassen kann“, sagt Berthod. Vor allem bei Airbus-Maschinen sei die Technik in den verschiedenen Flugzeugtypen immer gleich. Die Cockpits seien derart gestaltet, dass Piloten abgeschottet seien und das Gefühl für die Außenwelt leicht verloren gehe. „Hier sollte unseren Erkenntnissen nach die Technik den Nutzern aber ein Gefühl vermitteln, dass sie mit ihrer Umgebung interagieren. Außerdem sollten die Piloten merken, mit welchen physikalischen Kräften sie es mitunter zu tun haben“, fährt Müller-Seitz fort.

    In ihrer Studie mahnen die beiden Wissenschaftler im Umgang mit technischen Systemen zu einer reflektierten Wachsamkeit. Dies trifft aber nicht nur auf Piloten zu, sondern auch auf andere Berufsgruppen, die mit ähnlichen Systemen arbeiten, zum Beispiel auf Börsenmakler, deren Computerprogramme mit Millionen von Börsenwerte zugleich handeln, oder auf Finanzmanager, die für milliardenschweren Investitionen verantwortlich sind.

    Die Studie „Making Sense in Pitch Darkness: An Exploration of the Sociomateriality of Sensemaking in Crisis” wurde in der renommierten Fachzeitschriften Journal of Management Inquiry veröffentlicht.
    DOI: 10.1177/1056492616686425

    Fragen beantworten:
    Prof. Dr. Gordon Müller-Seitz
    TU Kaiserslautern
    Tel.: 0631 205-5008
    E-Mail: gms[at]wiwi.uni-kl.de

    Dr. Olivier Berthod
    Freie Universität Berlin
    Tel.: 030 838-71623
    E-Mail: olivier.berthod[at]fu-berlin.de


    Bilder

    Professor Dr. Gordon Müller-Seitz
    Professor Dr. Gordon Müller-Seitz
    Foto: TU Kaiserslautern
    None

    Dr. Olivier Berthod
    Dr. Olivier Berthod
    Foto: privat
    None


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wirtschaftsvertreter
    Elektrotechnik, Informationstechnik, Verkehr / Transport, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Professor Dr. Gordon Müller-Seitz


    Zum Download

    x

    Dr. Olivier Berthod


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).