Sprachwissenschaftler in Germersheim untersuchen die Vorteile von vereinfachtem Deutsch für Behinderte, ausländische Mitbürger und Senioren
Behördensprache ist für viele Menschen nur schwer zu verstehen, besonders schwer jedoch für Migranten oder für Menschen mit Behinderungen. Dabei ginge es auch anders: Leichte Sprache und Einfache Sprache sind zwei Ausdrucksformen, die seit etwa zehn Jahren zum Einsatz kommen, um die Hürden von Beamtendeutsch und Fachchinesisch zu überwinden. Leichte Sprache geht dabei in der Vereinfachung ein gutes Stück weiter als Einfache Sprache, die auf Bürgernähe abzielt, aber nicht konkret definiert ist. „Leichte Sprache verwendet kurze Sätze und jeder Satz enthält nur eine Aussage“, erklärt Prof. Dr. Silvia Hansen-Schirra von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zwei grundlegende Voraussetzungen für Leichte Sprache. Sie untersucht mit ihrer Arbeitsgruppe in Germersheim, wie die beiden Sprachvarianten genau wirken. Erste Ergebnisse zeigen, dass Menschen mit Behinderungen Texte in Leichter Sprache besser verstehen. Es zeichnet sich jedoch auch ab, dass Senioren von Leichter Sprache unterfordert sind.
Seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist, fordern immer mehr Menschen ihr Recht auf barrierefreie Kommunikation und den Zugang zu Informationen ein. Viele Behörden, Ministerien oder auch der Deutsche Bundestag verwenden daher auf ihren Webseiten neben der normalen Sprache auch Leichte Sprache. Als Regeln dafür nennt der Verein „Netzwerk Leichte Sprache“ beispielsweise, einfache Wörter zu benutzen, keine Abkürzungen zu schreiben oder Redewendungen zu vermeiden. „Leichte Sprache soll Menschen helfen, die kognitive Einschränkungen aufweisen oder über nur schlechte Deutschkenntnisse verfügen“, erläutert Hansen-Schirra. „Das erfordert eine Art Übersetzungsleistung, bei der die Fachsprache lesbar und damit dann auch verständlich gemacht wird.“
Ob diese Ziele erreicht werden, wurde bislang jedoch kaum empirisch untersucht. Die Sprachwissenschaftler am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der JGU haben daher in Kooperation mit dem Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie in Rheinland-Pfalz die Webseiten des Ministeriums zum Transparenzgesetz und zur Transparenzplattform in Leichte und Einfache Sprache übersetzt. In einer ersten Pilotstudie haben acht Probanden mit kognitiven Beeinträchtigungen die drei verschiedenen Texte gelesen. Das Leseverhalten wurde mit einem Eyetracker aufgezeichnet, der die Blickbewegungen jeweils genau verfolgt und aufzeichnet. Die bei Weitem kürzeste durchschnittliche Lesezeit verbuchte die Leichte Sprache, während die Texte in Einfacher Sprache und das Original praktisch gleichauf lagen.
Mediopunkt als Segmentierungshilfe
Die Germersheimer Sprachforscherinnen haben außerdem eine Besonderheit der Leichten Sprache untersucht, den Mediopunkt. „Deutsch ist für die langen, zusammengesetzten Wörter bekannt, man denke nur an ‚Datenschutzbeauftragter‘. Nicht immer lässt sich dafür eine Alternative finden, sodass auch in der Leichten Sprache komplexe Komposita vorkommen“, erklärt Silke Gutermuth, die als Wissenschaftliche Mitarbeiterin die Studien betreut. Zusammengesetzte Wörter können in der Leichten Sprache jedoch mit dem Mediopunkt übersichtlicher dargestellt werden, wie zum Beispiel bei „Taxi·fahrer“. Der Mediopunkt ist kein offizielles Satzzeichen. Er befindet sich auf halber Versalhöhe und kann über eine Tastenkombination dargestellt werden. „Wir haben den Mediopunkt bei unseren Versuchen eingesetzt, ohne ihn ausdrücklich zu erklären. Jeder hat ihn intuitiv verstanden und konnte das Wort dann viel schneller lesen als im Original“, so Gutermuth. „Der Mediopunkt dient der Segmentierung und hilft damit tatsächlich beim Verarbeiten des Wortes.“
Nachdem die Wissenschaftlerinnen mit ihrer ersten Pilotstudie festgestellt hatten, dass Leichte Sprache für Menschen mit Behinderung von Vorteil ist, wurde der Fokus vergrößert. In einer Folgestudie mit mehr als 100 Probanden haben Hansen-Schirra und Gutermuth zusätzlich ausländische Mitbürger und Senioren aufgenommen und mit einer Kontrollgruppe verglichen. Außer der Erhebung der Lesezeit wurden Verständlichkeitstests durchgeführt, um zu sehen, ob der Text auch inhaltlich erfasst oder nur schnell überflogen wurde. Detaillierte Ergebnisse der großen Studie werden im Frühjahr 2017 veröffentlicht.
Foto/Abb.:
http://www.uni-mainz.de/bilder_presse/06_anglistik_leichte_sprache_01.jpg
Aufzeichnung der Lesebewegungen mit dem Eyetracker
Foto/©: Stefan Sämmer
http://www.uni-mainz.de/downloads_presse/06_anglistik_leichte_sprache_02.pdf
Textbeispiel in Leichter Sprache
Quelle/©: Arbeitsbereich Englische Sprach- und Übersetzungswissenschaft, JGU
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Silvia Hansen-Schirra
Arbeitsbereich Englische Sprach- und Übersetzungswissenschaft
Fachbereich 06: Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU)
An der Hochschule 2
76711 Germersheim
Tel +49 7274 508-35138
E-Mail: hansenss@uni-mainz.de
http://www.fb06.uni-mainz.de/esue/58.php
Weitere Links:
http://www.fb06.uni-mainz.de/esue/
https://www.uni-mainz.de/presse/75036.php (Pressemitteilung vom 13.04.2016 „Translationsforschung in Germersheim nimmt eines der weltweit ersten neurolinguistischen Labore in Betrieb“)
https://www.uni-mainz.de/presse/74599.php (Pressemitteilung vom 14.03.2016 „Johannes Gutenberg-Universität Mainz bringt Forschung mit Eyetracking auf die CeBIT 2016“)
http://www.magazin.uni-mainz.de/5089_DEU_HTML.php (JGU-Magazin vom 26.11.2016 „Für mehr Verständlichkeit“)
https://www.youtube.com/watch?v=xtb29j6a_X8
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Pädagogik / Bildung, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch
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