Der Gründungsvater der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung verstarb im Alter von 89 Jahren in Berlin. Ein Nachruf auf einen herausragenden Gelehrten.
Wir trauern um Ernst-Otto Czempiel. Mit ihm verliert die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung ihren Gründungsvater und langjährigen spiritus rector. Er war der Doyen der deutschen Friedensforschung und wird der Politikwissenschaft fehlen.
Obwohl sich Prof. Dr. Ernst-Otto Czempiel – im Institut und darüber hinaus kurz als E.O. bekannt – bereits 2008 aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen hatte, hinterlässt sein Tod eine große Leere. Er war für uns alle ein inspirierender, pointiert denkender und politisch engagierter Diskussionspartner, für viele ein verantwortungsbewusster Doktorvater und für manche ein wundervoller Freund. Er bestimmte wissenschaftliche Debatten weit über die Grenzen der Friedensforschung hinaus und wurde für viele auch in der Politik und in der Gesellschaft ein intellektueller Referenzpunkt.
Geboren am 22. Mai 1927 in Berlin in ein katholisch geprägtes Elternhaus, konnte sich Ernst-Otto Czempiel den Organisationen des NS-Regimes entziehen. Er erlebte die Grauen des Krieges als Berliner Kind und wurde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als Flakhelfer eingesetzt. Diese traumatische Erfahrung bestimmte seine berufliche und wissenschaftliche Orientierung und eine pazifistische Grundhaltung, die gegen Ende seines akademischen Schaffens immer deutlicher hervortrat. Weil ihm die Immatrikulation an der Humboldt-Universität zu Berlin aus „weltanschaulichen Gründen“ versagt wurde, besuchte Czempiel zunächst eine Dolmetscherschule in Berlin. Die beginnende Blockade der Stadt erlebte er in Speyer, wo er sich an Initiativen zur deutsch-französischen Aussöhnung beteiligte. Er nahm dann ein Studium der Neueren Geschichte, Anglistik und Philosophie an der Universität Mainz auf, das er 1956 mit einer Promotion über „Das deutsche Dreyfus-Geheimnis“ abschloss. Der Untertitel „Eine Studie über den Einfluss des monarchistischen Regierungssystems auf die Frankreich-Politik des Wilhelminischen Reiches“ weist auf eine Fragestellung hin, die sein politikwissenschaftliches Lebenswerk wie ein roter Faden durchziehen sollte: den Zusammenhang zwischen der inneren Verfasstheit von Staaten und ihrer Außenpolitik. Warum dieser Zusammenhang kein einfacher ist und sich auch Demokratien im Umgang mit autoritären Regimen dazu verleiten lassen, auf Militär und gewaltsame Konfliktstrategien zu setzen, beantwortete Czempiel in seiner Habilitationsschrift über die amerikanische Außenpolitik der Nachkriegszeit, die er als Assistent von Eugen Kogon an der Technischen Hochschule in Darmstadt verfasste.
Nach einem Forschungsaufenthalt an der Columbia University in New York übernahm Czempiel eine Professur an der Philipps-Universität in Marburg. Hier entwickelte er die Idee, ein hessisches Friedensforschungsinstitut zu gründen, und er fand dafür im damaligen Ministerpräsidenten Albert Osswald einen politisch überzeugten Unterstützer. Dass die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung 1970 dann in Frankfurt gegründet wurde, verdankt sie dem Ruf Czempiels an die Goethe-Universität, den er im gleichen Jahr annahm. In den folgenden Jahren steuerte er das zunächst kleine und anfänglich heftig umstrittene Boot der Hessischen Stiftung erfolgreich durch manchen politischen Sturm. Hier begannen namhafte Exponenten der ersten Generation der deutschen Friedensforschung wie Dieter Senghaas, Jürgen Gantzel, Egbert Jahn und Volker Rittberger ihre akademischen Karrieren. Czempiel legte mit seinem Drängen auf wissenschaftliche Professionalität und Internationalisierung die Grundlage dafür, dass sich die HSFK zu einem Flaggschiff der deutschen Friedensforschung entwickeln konnte. 2009 wurde die HSFK unter der Leitung des Czempiel-Schülers Harald Müller in die Leibniz-Gemeinschaft aufgenommen.
Wie kaum ein anderer hat Czempiel die deutsche Friedensforschung und Politikwissenschaft geprägt. Er war Mitbegründer der Sektion für Internationale Beziehungen der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften, der er von 1966–1969 vorsaß, und maßgeblich beteiligt an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung. Darüber hinaus mischte er sich immer wieder in aktuelle politische Debatten ein und wurde zu einem gesuchten Gesprächspartner in Bonn und Berlin. Für seine Verdienste wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse (1994) und dem Hessischen Verdienstorden (1996) geehrt.
Nach seiner Emeritierung 1992 übernahm Czempiel wieder die Geschäftsführung der HSFK und blieb auch nach seinem Rücktritt 1995 einer der produktivsten und profiliertesten Mitarbeiter des Instituts. 2008 verlieh die HSFK erstmals den zu seiner Ehre gestifteten Ernst-Otto Czempiel-Preis für die beste postdoktorale Monografie aus der Friedensforschung.
Ernst-Otto Czempiel verstarb am 11. Februar kurz vor seinem 90. Geburtstag in Berlin. Wir werden seine leise, aber von uns allen stets wahrgenommene Stimme schmerzlich vermissen.
Die Kolleginnen und Kollegen der
Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Politik
überregional
Personalia
Deutsch
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