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06.08.2003 07:14

Die Nation entsteht durch Abgrenzung gegen die Feinde

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Geschichte

    Kriegserfahrungen sind nicht als authentische Erlebnisse zu schildern, sondern die Wirklichkeit wird von den Kriegsteilnehmern immer wieder neu konstruiert - mit diesem Forschungsansatz zeichnet der Historiker Dr. Christian Rak das Bild des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 nach, wie es Feldgeistliche in Briefen an Angehörige, Predigten und Dienstberichten situations- und zeitabhängig ganz unterschiedlich dargestellt haben.

    Wie Feldgeistliche den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 erlebt haben

    Als Frankreich 1870 seine Vormachtstellung in Europa durch die Preußische Regierung bedroht sah, erklärte es Deutschland den Krieg. Deutschland war damals allerdings kein einiger Nationalstaat, sondern setzte sich aus einer Reihe von Einzelstaaten zusammen, die aber aufgrund militärischer Bündnisverträge gemeinsam gegen den "Erbfeind" Frankreich in den Krieg zogen. Im Krieg, so heißt es in einem geflügelten Wort, sei das erste Opfer immer die Wahrheit. Doch der Historiker Dr. Christian Rak vom Historischen Seminar der Universität Tübingen geht bei seinen Forschungen davon aus, dass es die eine Wahrheit oder eine authentisch erlebbare Wirklichkeit nicht gibt. Vielmehr hat er in Niederschriften von Feldgeistlichen während und nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 erforscht, wie der Krieg in Abhängigkeit von der Zeit erlebt wird und sich die Geistlichen als Beteiligte oder Beobachter während und nach den Kämpfen die Wirklichkeit immer wieder neu konstruieren. Seine Doktorarbeit hat Christian Rak im Rahmen des Sonderforschungsbereichs "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" am Lehrstuhl von Prof. Dieter Langewiesche angefertigt und hat dafür im Mai 2003 den Dr. Leopold-Lucas-Nachwuchswissenschaftlerpreis erhalten.

    "Die Erfahrungen der Feldgeistlichen im Krieg sind besonders gut und auch aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln dokumentiert: Sie haben zum Beispiel ein Tagebuch geführt oder private Briefe an die Mutter oder Ehefrau geschrieben, Feldpredigten für die Soldaten und Dienstberichte für ihre Vorgesetzten verfasst, ihre Erfahrungen für Zeitungen aufgeschrieben und nach dem Kriegsende ihre Erinnerungen veröffentlicht", erklärt Rak. "Zum Beispiel in Dienstberichten äußern sich die Geistlichen über die eigenen Soldaten teilweise sehr negativ: Sie seien zu wenig religiös, verhielten sich unsittlich, es gebe Ausschreitungen gegen französische Zivilisten und es werde zu viel geflucht", beschreibt Rak. In den Feldpredigten wurden die Soldaten zur Besserung aufgerufen. "Wenn die Kirchenleitung die Berichte zur Veröffentlichung in Zeitungen weitergegeben hat, wurden diese kritischen Stellen aber alle gestrichen", sagt der Forscher. Nach seinem Ende wurde der Krieg, den die Deutschen gewonnen hatten, von den Geistlichen glorifiziert. "Das negative Bild sollte nicht in die Öffentlichkeit kommen. Es gab einen sehr engen Zusammenhang zwischen dem Kampf und dem deutschen Nationalstaat: Die Helden vom Schlachtfeld negativ darzustellen, wäre eine 'Versündigung' am Staat", erklärt der Historiker. Zu einer nationalen Einigung der Deutschen kam es am 18. Januar 1871, als der preußische König Wilhelm I. von den deutschen Fürsten die Kaiserkrone erhielt.

    Gut verfolgen ließ sich die ständige Umdeutung des Krieges auch durch die schriftlichen Quellen des evangelischen Pfarrers Köstlin aus Württemberg: Er schrieb noch am gleichen Abend der schwersten Schlacht der Württemberger einen Brief an seine Mutter, in dem er von den Schrecken und blutigen Szenen berichtet, ohne die Ereignisse zu bewerten. "Zwei Wochen später im Dienstbericht an die kirchliche Leitung äußert er sich schon distanzierter: Er berichtet zwar von den Schrecken, aber auch von ergreifenden Situationen, zu erleben, dass er als Geistlicher 'wahre Gottesdienste' vollbringen konnte, indem er in einer Blutlache bei einem sterbenden Soldaten gekniet hat", erzählt Rak. In einer Feldpredigt spricht Köstlin einige Wochen nach der Schlacht in einem Gedächtnisgottesdienst für die Gefallenen, hier gibt er der Schlacht erstmals einen nationalen Sinn. Die Predigt ist mit der Mahnung an die Lebenden verbunden, selbst auch bereit zu sein, fürs Vaterland zu sterben. Als Köstlin schließlich seine Erinnerungen Jahre nach dem Krieg zu Papier bringt, schreibt er wie ein Kriegsberichterstatter, sieht die Schlacht im Nachhinein als ruhmreichen Kampf.

    "Anekdoten über das Zusammenstehen der Kameraden bis in den Tod wurden zum Teil wortgleich übernommen, offenbar brachte dies auf den Punkt, was die Menschen ausdrücken wollten", sagt Rak. Die Umdeutung der Kriegswirklichkeit muss die ehemaligen Feldgeistlichen selbst in Erstaunen versetzt haben: Ein Geistlicher ließ sich zwanzig Jahre nach Kriegsende seine Dienstberichte aus dem Krieg schicken, um sie für einen neuen Gedenkband zu Jubiläumsfeiern des Sieges der Deutschen zu verwenden. Die traurigen Ereignisse, die er mitten im Krieg niedergeschrieben hatte, erschienen ihm nun völlig fremd und machten ihn betreten. Dies hat Rak aus einem Brief des Geistlichen an seinen ehemaligen Feldpropst erfahren.

    In dem Krieg von 1870/71 hat dem Historiker zufolge die Konfession der Christen eine sehr große, heute wohl so nicht mehr vorstellbare Rolle gespielt. "Das lag auch daran, dass auf dem Ersten Vatikanischen Konzil unter Papst Pius IX. einen Tag vor Kriegsbeginn das so genannte Unfehlbarkeitsdogma verkündet wurde", sagt Rak. Die Protestanten hätten den Katholiken in der Folge vorgeworfen, dass deren Obrigkeit außerhalb der Nation liege. Damit müssten sie sich eventuell gegen die Interessen der eigenen Nation stellen. Raks These ist, dass die öffentlichen Diskurse in der Reichsgründungszeit stark konfessionell geprägt waren, auch wenn dies oft nicht explizit genannt wurde. Deutlich wird dies an den Schriften der rund 350 Feldgeistlichen, die 1870/71 im Einsatz waren, da hier die konfessionellen Stoßrichtungen der populären Deutungsmuster offen zutage treten. "Die Deutungsmuster sind dabei eng verzahnt. Frankreich wurde als katholisches Land betrachtet. Wer die Franzosen kritisierte, wollte häufig auch die Katholiken in der Heimat mittreffen", sagt Rak. Man sehe daran, wie wichtig Feindbilder sind, um eine Nation zu konstruieren, durch Abgrenzung Einigkeit herzustellen. "Die einige Nation wurde beschworen, aber unter der Oberfläche gingen die Konflikte weiter." Dabei sorgte neben der unterschiedlichen Konfession auch die regionale Zugehörigkeit der Menschen für Feindseligkeiten, etwa zwischen Bayern und Preußen.

    Die Franzosen galten als sittlich und religiös verkommen, Paris als Sündenpfuhl. Die Protestanten argumentierten: Die katholischen Franzosen seien vom Klerus fehlgeleitet worden, die katholische Konfession könne die wahren Bedürfnisse nicht befriedigen, die Lösung sei der Protestantismus. Die Katholiken dagegen argumentierten, die Franzosen seien eigentlich nicht mehr richtig katholisch. Die katholischen Geistlichen seien wie Missionare, die den Katholizismus zu den Franzosen zurückbringen müssten. Im Feld haben die Geistlichen verschiedener Konfessionen jedoch teilweise eng zusammengearbeitet. Die Gottesdienste wurden manchmal für beide Konfessionen zusammen gehalten. "Diese Form der Ökumene war nach dem Krieg nicht aufrecht zu erhalten", sagt Rak.

    Um an die Dokumente der Feldgeistlichen zu kommen, hat Christian Rak in rund 20 Archiven geforscht, in katholischen Bistumsarchiven, evangelischen Landeskirchenarchiven, Staatsarchiven und dem Bundesmilitärarchiv in Koblenz. "Die Briefe waren meistens mit Bleistift in Sütterlin geschrieben, häufig im Feld, manchmal ohne Tisch", beschreibt der Historiker die Texterschließung. "Der Reiz ist für mich, dass das, was ich vor mir hatte, zuletzt derjenige in Händen hielt, an den das Schreiben vor über 130 Jahren adressiert war."
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    Nähere Informationen:

    Dr. Christian Rak
    Alter Postweg 4/1
    89584 Ehingen/Donau
    Tel. 0 73 91/50 95 26
    E-Mail: chr.rak@web.de

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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