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10.07.2017 14:27

Von harmlosen Predigten bis zum tödlichen Anschlag - Untersuchungen zur salafistischen Jugendszene

Dr. Utz Lederbogen Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Osnabrück

    OSNABRÜCK/BIELEFELD.- Ein selbst gebastelter Islam in einer WhatsApp-Gruppe hat junge Menschen systematisch radikalisiert. Eine Forschungsgruppe der Universitäten Osnabrück und Bielefeld hat das vollständige Chatprotokoll einer djihadistischen Gruppe analysiert und nun veröffentlicht. Die Studie ist eine der ersten empirischen Untersuchungen zur djihadistischen Jugendszene in Deutschland.

    Das Chat-Dokument enthält insgesamt 5.757 Postings von zeitweilig bis zu zwölf Gruppenmitgliedern. Die Postings zeigen die Kommunikation und Gruppendynamik unmittelbar vor einem geplanten Anschlag von jungen Menschen aus „normalen Verhältnissen“. Diese „natürlichen Daten“ vermitteln Informationen zu einer Vielzahl von Aspekten, die für die Radikalisierung wichtig sind: Die Gruppenstrukturen, ihre Hierarchie, die Dynamik und der Druck der Gruppe auf ihre Mitglieder, wie auch die Entwicklung einer so genannten „Lego“-Ideologie, die immer stärker die Gemeinsamkeiten und das Selbstbild der jungen Menschen prägt.

    Die Studie des Forschungsnetzwerks Radikalisierung und Prävention (FNPR) der Universitäten Osnabrück und Bielefeld zeigt, dass die Gruppenmitglieder offenkundig nur über rudimentäre oder gar keine Islamkenntnisse verfügen. Selbst die Gestaltung einfachster ritueller Alltagshandlungen – wie zum Beispiel die Verrichtung des Pflichtgebets – ist Teilen der Gruppenmitglieder nicht bekannt. „In Gänze betrachtet konstruiert die Gruppe nach dem Baustein-Prinzip einen Gruppenkult, der in all seinen zentralen Aussagen auf Willkür beruht und als krude und einfältig bezeichnet werden kann“, stellt Dr. Michael Kiefer von der Universität Osnabrück fest. Er und sein Kollege Bacem Dziri haben auf der Grundlage einer islamtheologischen Analyse gezeigt, wie zentrale Figuren in der Gruppe geschickt eine Copy-und-Paste-Ideologie aus Koranversen und Botschaften djihadistischer Führer zusammengeschnitten haben. Zentral dabei ist von Anfang an die Gewaltorientierung.

    „Die selbst erzeugte und nahezu perfekt durchorganisierte Radikalisierung der Gruppe sollte vor dem Hintergrund einer kritischen Jugendphase verstanden werden“, ergänzt Viktoria Roth aus Bielefeld. Jugend ist eine wichtige Phase des Übergangs zum Erwachsensein. Die Gesellschaft hat für diese Phase zentrale Entwicklungsaufgaben, wie zum Beispiel die Loslösung vom Elternhaus. „Das nutzen ideologisch hoch motivierte Personen aus, um Jugendliche in ihre extremistische Gruppe zu ziehen“, betont Fabian Srowig von der Universität Bielefeld. Die salafistisch geprägte Radikalisierung und ihre im Chat kommunizierten logistischen und spirituellen Anschlagsvorbereitungen sind Schritte auf dem Weg zum Erwachsensein. Was die Gruppe eint, ist vor allem die naive und romantisierende Vorstellung gemeinsam auf den Schlachtfeldern des Djihad zu stehen und dabei zum Mann zu werden.

    In seinen abschließenden Empfehlungen fordert das Forschungsteam insbesondere eine Ausweitung der Feldforschung. „Die systematische und wissenschaftlich unabhängige Fallanalyse kann der Prävention helfen, weil sie frühe Ursachen entdecken kann“, meint Prof. Dr. Andreas Zick. „Bevor sich junge Menschen radikalisieren, werden Grundsteine dafür in der frühen Sozialisation gelegt“, fügt der Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld hinzu. Ferner benötigt die Radikalisierungsprävention eine solide Wissensbasierung. „Immer noch arbeiten zu viele Projekte in experimentellen Anordnungen. Es fehlt ein profundes Wissen über Radikalisierungsprozesse bei Jugendlichen“, mahnt Dr. Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.

    Das Buch zur Pressemitteilung:
    „Lasset uns in shaʼa Allah ein Plan machen“: Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer WhatsApp-Gruppe.
    Autoren: Kiefer, Michael, Hüttermann, Jörg, Dziri, Bacem, Ceylan, Rauf, Roth, Viktoria, Srowig, Fabian, Zick, Andreas.
    Springer VS Verlag: http://www.springer.com/de/book/9783658179496

    Die Autorinnen und Autoren der Studie:
    Prof. Dr. Rauf Ceylan (Universität Osnabrück) kontextualisiert das Chatprotokoll und stellt es in den Zusammenhang der religionssoziologischen Debatte über die Wiederkehr der Religion im Gewand des globalen Fundamentalismus.

    Bacem Dziri und Dr. Michael Kiefer (Universität Osnabrück) analysieren das Dokument aus einer islamwissenschaftlichen Perspektive. Die Autoren diskutieren dessen religiösen Gehalt vor dem Hintergrund der Frage, ob und, wenn ja, wie der Radikalismus mit dem Islam als traditioneller Religion im Zusammenhang steht.

    Viktoria Roth, Fabian Srowig und Prof. Dr. Andreas Zick (Universität Bielefeld) beschreiben aus einer jugendsoziologischen Perspektive, auf welche Weise eine Vermischung radikal-islamistischer Inhalte mit westlichen jugend- und konsumkulturellen Elementen stattfindet.

    Jörg Hüttermann (Universität Osnabrück) beleuchtet die spezifische Soziologik der neosalafistisch-djihadistischen Chatgruppe im Lichte eines Vergleichs. Er stellt den Verschwörern eine andere, der islamischen Mystik zuzurechnenden muslimischen Gruppierung gegenüber.

    Das abschließende Policypaper spricht Empfehlungen aus, die sich an Akteure aus Politik, Wissenschaft Gesellschaft und Praxis richten.

    Das Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention (FNPR), das im Juni 2015 gegründet wurde, führt Forscherinnen und Forscher des Instituts für Islamische Theologie (IIT) der Universität Osnabrück und des Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung“ (IKG) der Universität Bielefeld zusammen, um aus einer interdisziplinären Perspektive zu Fragen der Radikalisierung und Prävention zu forschen.

    Weitere Informationen für die Medien:
    Dr. Michael Kiefer, Universität Osnabrück
    Institut für Islamische Theologie (IIT)
    Tel. +49 541 969 6220
    E-Mail: michael.kiefer@uni-osnabrueck.de

    Prof. Dr. Andreas Zick, Universität Bielefeld
    Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
    Tel. +49 521-106-2442
    E-Mail: zick@uni-bielefeld.de

    Utz Lederbogen, Pressesprecher Universität Osnabrück
    Tel. +49 541 969 4370
    E-Mail: utz.lederbogen@uni-osnabrueck.de


    Bilder

    Eine Forschungsgruppe der Universitäten Osnabrück und Bielefeld stellte ersten empirischen Untersuchungen zur salafistischen Jugendszene vor.
    Eine Forschungsgruppe der Universitäten Osnabrück und Bielefeld stellte ersten empirischen Untersuch ...
    Foto: Universität Osnabrück/Elena Scholz
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Philosophie / Ethik, Politik, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Eine Forschungsgruppe der Universitäten Osnabrück und Bielefeld stellte ersten empirischen Untersuchungen zur salafistischen Jugendszene vor.


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