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30.08.2017 21:44

ALMA findet gigantische versteckte Vorräte an turbulentem Gas in entfernten Galaxien

Dr. Carolin Liefke - ESO Science Outreach Network Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Astronomie

    Pressemitteilung der Europäischen Südsternwarte (Garching) - Mithilfe von ALMA konnte ein Astronomenteam mit Beteiligung vom Max-Planck-Institut für Astronomie Reservoirs mit kaltem und turbulentem Gas in der Umgebung ferner Starburst-Galaxien auffinden. Der erstmalige Nachweis von CH+ im fernen Universum eröffnet neue Möglichkeiten zur Erforschung einer Schlüsselepoche der Sternentstehung . Das Vorhandensein dieser Moleküle gibt Hinweise darauf, wie Galaxien ihre Phase schneller Sternentstehung über eine längere Zeit ausdehnen können. Die Ergebnisse erscheinen in der Fachzeitschrift Nature.

    Ein Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Edith Falgarone von der École Normale Supérieure und Observatoire de Paris hat mit dem Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) Spuren von Kohlenstoffhydrid-Molekülen CH+ [1] in fernen Starburst-Galaxien nachzuweisen [2]. Die Forscher identifizierten deutliche Signale von CH+ in fünf von sechs der untersuchten Galaxien einschließlich jener, denen die Astronomen den Spitznamen "Kosmische Wimper" gegeben haben (eso1012) [3]. Dies liefert neue Informationen, mit deren Hilfe Astronomen das Wachstum von Galaxien verstehen sowie nachvollziehen können, wie die Umgebung einer Galaxie Rohmaterial für die Sternentstehung liefert.

    "CH+ ist ein besonderes Molekül. Für seine Entstehung ist eine gehörige Menge an Energie vonnöten, und es ist sehr reaktionsfreudig. Daher ist seine Lebenszeit sehr kurz, und das Molekül kann nicht weit von seinem Entstehungsort wegtransportiert werden. Mit CH+ lassen sich daher Energieströme in Galaxien und ihren Umgebungen nachzeichnen", erläutert Martin Zwaan, ein ESO-Astronom, der zu dem Fachartikel beigetragen hat, in dem die Ergebnisse veröffentlicht werden.

    Eine Analogie dafür, wie sich mithilfe von CH+ Energie nachweisen lässt, ist ein Boot in einem tropischen Meer in einer mondlosen Nacht. Unter geeigneten Bedingungen leuchten unter dem vorbeisegelnden Boot Mikroorganismen als Meeresleuchten auf. Die Turbulenz aufgrund des durch das Wasser gleitenden Bootsrumpfes regt diese Mikroorganismen dazu an, Licht auszusenden, und das Licht zeigt wiederum an, wo in dem eigentlich dunklen Wasser sich turbulente Regionen befinden. Da CH+ sich ausschließlich in kleinen Bereichen bildet, wo die Energie der turbulenten Strömung in Wärmeenergie umgesetzt wird, erfüllt sie eine ganz analoge Nachweisfunktion wie das Meeresleuchten – auf galaktischen Größenskalen.

    Das beobachtete CH+ zeigt dichte Schockwellen, die von heißen, schnellen galaktischen Winden erzeugt werden, die aus den Sternentstehungsregionen der Galaxien stammen. Diese Winde fegen durch eine Galaxie und treiben dabei Materie aus der Galaxie heraus; ihre turbulenten Bewegungen sind aber dergestalt, dass ein Teil des Materials später durch das Schwerefeld der Galaxie wieder eingefangen werden kann. Dieses wieder eingefangene Material bildet riesige, turbulente Reservoirs an kühlem Gas niedriger Dichte, die sich bis in einen Abstand von mehr als 30.000 Lichtjahren von der betreffenden Sternentstehungsregion erstrecken können [4].

    "Von CH+ lernen wir, dass Energie in Form riesiger, galaxiengroßer Winde gespeichert wird und sich am Ende als turbulente Bewegung in bislang nicht beobachteten Reservoirs von kaltem Gas manifestiert", erklärt Falgarone, die Erstautorin des neuen Fachartikels. "Unsere Ergebnisse sind eine Herausforderung für die Theorie der Galaxienentwicklung. Indem sie die Turbulenz in die Reservoirs treiben, verlängern diese galaktischen Winde die Starburst-Phase mit besonders aktiver Sternentstehung anstatt sie zum Erlöschen zu bringen."

    Die Wissenschaftler stellten fest, dass die galaktischen Winde alleine nicht ausreichen, um die neuentdeckten Gas-Reservoirs wieder aufzufüllen, und schlagen vor, dass die entsprechende Masse über die Verschmelzung von Galaxien oder durch das Aufsammeln versteckter Gasströmungen zur Verfügung gestellt wird, wie es die heutigen Theorien vorhersagen.

    "Die Entdeckung stellt einen wichtigen Schritt hin auf ein besseres Verständnis derjenigen Prozesse dar, mit denen das Einströmen von Material rund um einige der aktivsten Starburst-Galaxien im frühen Universum geregelt wird", schließt Rob Ivison, wissenschaftlicher Direktor der ESO und Koautor des jetzt erschienenen Fachartikels. "Sie zeigt, was alles möglich ist, wenn Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenkommen, um das Leistungsvermögen eines der leistungsstärksten Teleskope der Welt auszunutzen."

    Endnoten

    [1] CH+ ist ein Ion des CH-Moleküls und eines der ersten drei Moleküle, die jemals im interstellaren Medium entdeckt wurden. Das Vorhandensein von CH+ im interstellaren Raum stellt die Wissenschaftler allerdings vor ein Rätsel, da das Molekül extrem reaktionsfreudig ist und so schneller als andere Moleküle verschwindet.

    [2] Starburst-Galaxien zeichnen sich gegenüber der vergleichsweise ruhigen Milchstraße und ihren Verwandten durch eine deutlich höhere Sternentstehungsrate aus. Damit sind diese Galaxien ideale Studienobjekte, um das Wechselspiel von Gas, Staub, Sternen und den Schwarzen Löchern in den Zentren von Galaxien zu untersuchen.

    [3] ALMA wurde eingesetzt, um Spektren jeder der Galaxien aufzunehmen. Ein Spektrum dokumentiert die Zerlegung von Licht (insbesondere eines astronomischen Objekts) in unterschiedliche Farbkomponenten (entsprechend unterschiedlichen Wellenlängen), ähnlich wie dies bei einem Regenbogen zu beobachten ist. Da jedes chemische Element einen eigenen "Fingerabdruck" im Spektrum hinterlässt, lässt sich mithilfe von Spektren die chemische Zusammensetzung von Beobachtungsobjekten rekonstruieren.

    [4] Diese turbulenten Reservoirs von diffusem Gas könnten mit den gigantischen leuchtenden Halos verwandt sein, die um ferne Quasare beobachtet wurden.

    Zusatzinformationen

    Die hier vorgestellten Ergebnisse von . Falgarone et al. erscheinen am 30. August 2017 unter dem Titel "Large turbulent reservoirs of cold molecular gas around high redshift starburst galaxies" in der Fachzeitschrift Nature.

    Die beteiligten Wissenschaftler sind E. Falgarone (École Normale Supérieure und Observatoire de Paris), M. A. Zwaan (ESO), B. Godard (École Normale Supérieure und Observatoire de Paris), E. Bergin (University of Michigan), R. J. Ivison (ESO, Deutschland und University of Edinburgh), P. M. Andreani (ESO Deutschland), F. Bournaud (CEA/AIM, Frankreich), R. S. Bussmann (Cornell University), D. Elbaz (CEA/AIM), A. Omont (IAP, CNRS, Sorbonne Universités, Frankreich), I. Oteo (University of Edinburgh und ESO Deutschland) und Fabian Walter (Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg).

    Die Europäische Südsternwarte (engl. European Southern Observatory, kurz ESO) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch 16 Länder: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz und die Tschechische Republik. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO verfügt über drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Chile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist außerdem einer der Hauptpartner bei zwei Projekten auf Chajnantor, APEX und ALMA, dem größten astronomischen Projekt überhaupt. Auf dem Cerro Armazones unweit des Paranal errichtet die ESO zur Zeit das Extremely Large Telescope (E-ELT) mit 39 Metern Durchmesser, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird.

    Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsländern (und einigen weiteren Staaten) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.

    Kontaktinformationen

    Markus Pössel
    ESO Science Outreach Network - Haus der Astronomie
    Heidelberg, Deutschland
    Tel: 06221 528 261
    E-Mail: eson-germany@eso.org

    Edith Falgarone
    Ecole Normale Supérieure — Observatoire de Paris
    Paris, France
    Tel: +33 01 4432 3347
    E-Mail: edith.falgarone@ens.fr

    Richard Hook
    ESO Public Information Officer
    Garching bei München, Germany
    Tel: +49 89 3200 6655
    Mobil: +49 151 1537 3591
    E-Mail: rhook@eso.org


    Weitere Informationen:

    https://www.eso.org/public/germany/news/eso1727/ - Webversion der Meldung mit weiteren Bildern und Videos
    https://www.eso.org/public/archives/releases/sciencepapers/eso1727/eso1727a.pdf - Fachartikel bei Nature
    https://www.eso.org/public/germany/images/archive/category/alma/ - Fotos von ALMA


    Bilder

    Europäische Südsternwarte
    Europäische Südsternwarte

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    Künstlerische Darstellung von Gas, das als Rohmaterial für ferne Starburst-Galaxien dient
    Künstlerische Darstellung von Gas, das als Rohmaterial für ferne Starburst-Galaxien dient
    Grafik: ESO/L. Benassi
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
    Physik / Astronomie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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