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20.09.2017 16:24

Hilfe zur Selbsthilfe: wie Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel Nervenzellen reparieren

Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Eine neue Therapiestrategie steht an der Schwelle zur Anwendung: Nervenzellen, die geschädigt sind, sollen mit Wirkstoffen geschützt und zur Selbstreparatur stimuliert werden. Dies berichtet die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) von ihrem Kongress in Leipzig, der heute beginnt. Als Modellkrankheit dient Forschern aus Erlangen und Bochum die Multiple Sklerose (MS), von der in Deutschland rund 200.000 Menschen betroffen sind. Sie tritt vor allem bei jungen Erwachsenen auf und kann zu irreversibler Schädigung im zentralen Nervensystem sowie schwerer Behinderung führen.

    In Zukunft könnten ähnliche Strategien auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie der Parkinson-Erkrankung, der Alzheimer-Erkrankung oder der Multisystematrophie eingesetzt werden.

    Aus der Grundlagenforschung zum Patienten

    Bei der schubförmigen Verlaufsform der MS hat die Medizin mit verschiedenen Formen der Immuntherapie seit einigen Jahren Medikamente zur Hand, die Entzündungen der Nervenzellen lindern. „Jetzt stehen Therapien, die Nervenzellen schützen oder sogar reparieren, an der Schwelle zur klinischen Anwendung“, sagt Professor Ralf Linker vom Universitätsklinikum für Neurologie in Erlangen auf dem Neurologiekongress in Leipzig. Diese vielversprechenden Ansätze entstehen aus der direkten Übersetzung von Studien aus der neurologischen Grundlagenforschung, gerade auch an deutschen Universitätskliniken, die in den vergangenen Jahren zu einem besseren Verständnis der mikroskopischen Vorgänge bei Zerstörung und Reparatur im zentralen Nervensystem beigetragen haben. Als Paradebeispiel für die Entwicklung neuer Therapieprinzipien bei Patienten dient vor allem die Sehnerv-Entzündung, an der sich Reparaturvorgänge besonders gut studieren lassen. Die Sehnerv-Entzündung ist ein typisches Symptom der MS und häufig das erste Anzeichen der Erkrankung.

    Erfolgversprechende Tests mit Antikörpern

    In ersten Studien an Patienten mit einer Sehnerv-Entzündung wurde der zielgerichtete Abwehrstoff Opicinumab getestet, ein Antikörper-Medikament, das angegriffenen Nervenhüllen die Chance gibt, sich wieder zu reparieren. Eine intakte Nervenhülle (Myelinscheide) wirkt wie eine Isolationsschicht um eine Stromleitung und verhindert Kurzschlüsse – und damit Fehlfunktionen der Neuronen. Bei Patienten mit MS bzw. einer Sehnerv-Entzündung ist die Schutzhülle geschädigt, ihre Reparatur heißt Remyelinisierung. Die positive Wirkung von Opicinumab kann an der verbesserten Leitfähigkeit des Sehnervs gemessen werden. „In ersten Versuchen mit Patienten hatte Opicinumab einige positive Effekte. Das deutet darauf hin, dass Remyelinisierung stattfindet. Bevor wir das Medikament in der Regelversorgung verschreiben können, müssen jedoch große Zulassungsstudien den Nutzen der Behandlung weiter absichern“, erklärt Professor Linker, Stellvertretender Klinikdirektor und Leiter des Neuroimmunologischen Forschungslabors in Erlangen.

    Epilepsie-Medikament rettet geschädigte Nervenhüllen

    Hoffnung legen die MS-Forscher auch auf das bewährte Epilepsie-Medikament Phenytoin. Eine Studie aus England analysierte, inwieweit der Wirkstoff, der den Einstrom von Salz-Ionen in die Nervenzelle blockiert und so bei Epilepsien überschießende Erregung verhindert, auch bei der Sehnerv-Entzündung schützend wirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Blockade von Ionen-Kanälen an geschädigten Nervenhüllen und damit blank liegenden Faserkabeln diese Schutzhülle tatsächlich vor dem Untergang durch schädliche Salzströme retten kann, wie bereits vorherige Studien in Zellkultur und experimentellen Modellen nahegelegt haben.

    Nahrungsergänzungsmittel unterstützen die Nervenreparatur

    Ein weiterer neuer Ansatz, der gerade an Zentren wie der Universitätsklinik Erlangen unter Leitung von Professor Ralf Linker und an der Ruhr-Universität Bochum unter Leitung von Professor Aiden Haghikia sowie des DGN-Past-Präsidenten Professor Ralf Gold intensiv untersucht wird, ist das Nahrungsergänzungsmittel Propionsäure. „Die Propionsäure dämmt nicht nur Entzündungen bei MS ein, sondern zeigt in Nervenzellkulturen aus Stammzellen von Patienten auch schützende Effekte, so dass hier bald beginnende klinische Studien mit großer Spannung erwartet werden“, sagt Professor Linker.

    Momentan können alle diese neuen Therapieformen lediglich im Rahmen von klinischen Studien verabreicht werden, und es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sie breit zur Anwendung kommen. Doch die internationale Forschergemeinde setzt große Hoffnung in diese neuen Therapieformen: „Aktuell werden unterschiedliche Ansätze in verschiedenen Phasen klinischer Studien untersucht, die eine neue Dimension der Behandlung eröffnen könnten“, fasst Professor Linker zusammen. „Dies könnte eines Tages auch bei der Therapie anderer neurologischer Erkrankungen wie der Parkinson-Erkrankung, der Multisystematrophie und der Alzheimer-Erkrankung zu Fortschritten führen.“

    Literatur:

    Cadavid D, Balcer L, Galetta S, Aktas O, Ziemssen T, Vanopdenbosch L, Frederiksen J, Skeen M, Jaffe GJ, Butzkueven H, Ziemssen F, Massacesi L, Chai Y, Xu L, Freeman S; RENEW Study Investigators. Safety and efficacy of opicinumab in acute optic neuritis (RENEW): a randomised, placebo-controlled, phase 2 trial. Lancet Neurol 2017; 16: 189–199.

    Raftopoulos R, Hickman SJ, Toosy A et al. Phenytoin for neuroprotection in patients with acute optic neuritis: a randomised, placebo-controlled, phase 2 trial. Lancet Neurol 2016; 15: 259–69.

    Haghikia A, Jörg S, Duscha A, Berg J, Manzel A, Waschbisch A, Hammer A, Lee DH, May C, Wilck N, Balogh A, Ostermann AI, Schebb NH, Akkad DA, Grohme DA, Kleinewietfeld M, Kempa S, Thöne J, Demir S, Müller DN, Gold R, Linker RA. Dietary Fatty Acids Directly Impact Central Nervous System Autoimmunity via the Small Intestine. Immunity 2016; 44: 951–3.

    Fachlicher Kontakt bei Rückfragen
    Prof. Dr. Ralf Linker
    Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen
    Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen
    Tel.: +49 (0)9131 8533001
    E-Mail: ralf.linker@uk-erlangen.de

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o albertZWEI media GmbH, Oettingenstraße 25, 80538 München
    Tel.: +49 (0)89 46148622, Fax: +49 (0)89 46148625, E-Mail: presse@dgn.org
    Pressesprecher der DGN: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 8000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsident: Prof. Dr. med. Gereon R. Fink
    Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Past-Präsident: Prof. Dr. med. Ralf Gold
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


    Weitere Informationen:

    https://www.dgn.org/presse/pressemitteilungen/55-pressemitteilung-2017/3463-hilf...


    Bilder

    Professor Ralf Linker vom Universitätsklinikum für Neurologie in Erlangen erläutert auf dem DGN-Kongress vielversprechende Ansätze zur Nervenzellenregeneration
    Professor Ralf Linker vom Universitätsklinikum für Neurologie in Erlangen erläutert auf dem DGN-Kong ...
    DGN/Hauss
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    Anhang
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Medizin
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

    Professor Ralf Linker vom Universitätsklinikum für Neurologie in Erlangen erläutert auf dem DGN-Kongress vielversprechende Ansätze zur Nervenzellenregeneration


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