Gemeinsame Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS)
Das Risiko, unter Natalizumab eine virusinduzierte progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) zu entwickeln, steigt für Multiple-Sklerose-Patienten, die eine immunsuppressive Therapie benötigen, mit jeder Infusion des Medikaments. Dies zeigt eine retrospektive Datenanalyse, die im Fachmagazin „Lancet Neurology“ veröffentlicht wurde. Die Publikation stellt ein neues Protokoll für eine individuelle Risikobewertung für die PML vor.
Ärzte sollten zukünftig kumulative Risikoabschätzungen für die zwar seltene, aber schwerwiegende Nebenwirkung der MS-Therapie verwenden, raten das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Im Frühjahr hatten KKNMS und DGN auf die mathematischen und methodischen Schwächen der bisher in der klinischen Praxis angewandten Methoden zur PML-Risikostratifizierung hingewiesen und vor einer substanziellen Unterschätzung des Risikos für die mitunter tödlich verlaufende Nebenwirkung gewarnt.
Der humanisierte monoklonale Antikörper Natalizumab ist eines der wirksamsten Mittel zur Immunmodulation bei Multipler Sklerose (MS). Vor und während einer Behandlung mit Natalizumab muss man jedoch eine potenzielle, schwerwiegende und Therapie-limitierende Nebenwirkung im Blick behalten: die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), hervorgerufen durch eine Aktivierung des JC-Virus (JCV). Als Hauptrisikofaktoren für PML gelten die Dauer der Natalizumab-Exposition, Antikörper gegen das PML-verursachende JCV sowie eine vorherige Behandlung mit Immunsuppressiva. Anhand dieser drei Faktoren kann das individuelle PML-Risiko geschätzt werden.
PML-Risiko bisher unterschätzt
Die 2012 vom Hersteller Biogen im „New England Journal of Medicine“ publizierte PML-Risikoeinschätzung wurde in den letzten zwei Jahren von Wissenschaftlern der Universitätsklinik Münster und der Alabama University Birmingham in Frage gestellt: „Viele Daten zur früheren Immunsuppression und zum JCV-Serostatus lagen bei der initialen Risikostratifizierung nicht vor, weshalb mit populationsbasierten Schätzungen gerechnet wurde. Das führte dazu, dass die Anzahl der Patienten, die die Natalizumab-Behandlung gesund abschlossen, insgesamt überschätzt wurde“, erklärt Prof. Ralf Gold, Vorstandssprecher des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS) und Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Die Fallstricke der initialen Risikobewertung hatten Neurologen der Universität Münster im Frühjahr im Fachmagazin „Neurology“ benannt (DGN und KKNMS berichteten): Erstens wurde die Zahl der Patienten mit einer früheren Immunsuppression zu hoch eingeschätzt. Zweitens wurde die JCV-Seroprävalenz der Population unterschätzt. Drittens führte die Aufteilung der Behandlungsdauer in definierte Zeiträume (1–24, 25–48 oder 49–72 Monate) zu einer Unterschätzung des PML-Risikos, weil die Anzahl der Patienten, die die Therapie während jedes Zeitraums abbrachen, weiter gezählt wurde, als ob sie die gesamte Behandlungsdauer abgeschlossen hätten. „Tatsächlich steigt das PML-Risiko aber mit jeder zusätzlichen Infusion sukzessive an“, betont Gold.
Neue Risikostratifizierung mit aktualisierter Datengrundlage
Nun hat der Hersteller eine überarbeitete PML-Risikostratifizierung vorgelegt. Der Neubewertung liegen drei klinische prospektive Studien mit insgesamt 37.249 Patienten (darunter 156 PML-Patienten) zugrunde. 58 Prozent der Patienten waren JCV-Antikörper-seropositiv, und 14 Prozent wurden im Vorfeld immunsuppressiv behandelt. Aufgrund der Vollständigkeit der Datenlage waren in diesem Fall populationsbasierte Annahmen nicht erforderlich. Zusätzlich wurden für die Berechnung des PML-Risikos die Abbruchraten von Patienten in einer bestimmten Behandlungsepoche berücksichtigt und die Dauer der verwendeten Behandlungsintervalle auf ein Jahr (12 Infusionen über 12 Monate) reduziert. Diese beiden Modifikationen bei der statistischen Auswertung verbessern die Genauigkeit der PML-Risikostratifizierung erheblich.
Die Datenanalyse verdeutlicht klinisch relevante Beobachtungen:
- Das jährliche PML-Risiko in den ersten zwei Jahren für Patienten ohne vorherige Immunsuppression scheint mit früheren Einschätzungen übereinzustimmen. Es steigt während des zweites Behandlungsjahres auf 1 : 1000 für Patienten mit einem JCV-Index von mehr als 1,5. Patienten mit einem JCV-Index zwischen 0,9 und 1,5 haben ein niedrigeres Risiko von 0,3 : 1000 am Ende des zweiten Jahres (Risiko im ersten Jahr 0,1 : 1000).
- Patienten mit einem JCV-Antikörper-Index von <0,9 haben ein niedriges PML-Risiko (<1 : 1000) während der ersten 6 Behandlungsjahre.
- Patienten mit einem Index zwischen 0,9 und 1,5 erreichen nach 3 Behandlungsjahren die Risikoschwelle von 1 : 1000, während Patienten mit einem JCV-Index > 1,5 nach 2 Jahren Therapiedauer diese Schwelle erreichen.
- Ab dem dritten Jahr nimmt das PML-Risiko weiter zu, wenn auch etwas langsamer bei Patienten mit niedrigeren JCV-Indizes.
- Die tatsächliche PML-Risikoabschätzung für längere Behandlungszeiträume (> 3 Jahre) ist anhand dieser Datenanalyse höher als zuvor berichtet (z.B. 2–3 : 1000 bei Patienten mit JCV-Indizes von 0,9–1,5 ohne vorangegangene Immunsuppression).
„Die Studie liefert entscheidende Verfeinerungen der PML-Risikostratifizierungsprotokolle, vor allem im Zusammenhang mit der kumulativen Risikoabschätzung. Es wird klargestellt, dass das Risiko einer PML nach jeder Infusion zunimmt. Ärzte sollten zukünftig kumulative Risikoabschätzungen verwenden, um das Risiko einer PML für JCV-seropositive Patienten mit hohen JCV-Indexwerten zu kommunizieren“, kommentiert Gold.
Weitere Verfeinerung der Risikoberechnung erforderlich
KKNMS und DGN sehen auch Kritikpunkte an der neuen Stratifizierung: So ist die Anzahl der Patienten mit früherer Immunsuppression niedrig (n = 3.080, 14 Prozent der Gesamtzahl) und nimmt im sechsten Jahr dramatisch ab, was möglicherweise die Genauigkeit der Risikostratifizierung für Patienten in den letzten Behandlungsjahren beeinträchtigt. Die verwendete Kohorte ist relativ klein und mit Patienten aus klinischen Studien nicht vollständig repräsentativ für die gesamte Population der MS-Patienten. Verschiedene Faktoren, die in der täglichen Praxis hinzugekommen sind, wie zum Beispiel ein erhöhter Abstand zwischen Infusionen oder eine Vortherapie mit neueren krankheitsmodifizierenden Therapien, wurden somit nicht berücksichtigt.
Aufgrund der neuen effektiven immunmodulatorischen MS-Therapien sind mittlerweile Patienten und Ärzte weniger bereit, ein hohes PML-Risiko einzugehen. Dennoch ist eine ständige Verfeinerung der PML-Risikostratifizierungsprotokolle erforderlich. Weitere Untersuchungen zur Pathophysiologie von PML und zu neuen Biomarkern mit einer besseren Spezifität als der JCV-Antikörper-Index sind erforderlich, um ein bestmögliches Maß an Behandlungsüberwachung für alle PML-assoziierten MS-Therapien zu erreichen.
Quellen
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"Natalizumab: Rechenschwäche beim PML-Risiko“. Pressemitteilung von DGN und KKNMS vom 21.3.2017 (http://www.dgn.org)
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Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren mehr als 8000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. http://www.dgn.org
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Pressesprecher der DGN: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS)
ist eines von bundesweit 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung initiiert wurden. Sie alle verfolgen das Ziel, Forscher zu spezifischen Krankheitsbildern bundesweit und interdisziplinär zusammenzubringen, um einen schnellen Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis zu ermöglichen. Der Fokus der aktuellen KKNMS-Projekte liegt auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und -Versorgung. Die Geschäftsstelle ist am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München angesiedelt.
http://www.kompetenznetz-multiplesklerose.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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