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19.09.2003 15:18

Lübecker Klinikchef klagt: "Das Embryonenschutzgesetz hat in wesentlichen Teilen versagt!"

Rüdiger Labahn Informations- und Pressestelle
Universität zu Lübeck

    Reproduktionsmedizin in Deutschland wegen gesetzlicher Zwänge nicht optimal - Zu geringe Erfolgsrate, zu viele Mehrlingsgeburten

    Seit der Geburt von Louise Brown, dem ersten "Retortenbaby" der Welt, sind 25 Jahre vergangen. Die künstliche Befruchtung ist für viele ungewollt kinderlose Paare zum Segen geworden: Inzwischen leben allein in Deutschland etwa 100 000 Menschen, die mit Hilfe reproduktionsmedizinischer Techniken zur Welt gekommen sind. Welche Verfahren erlaubt und welche verboten sind, regelt das deutsche Embryonenschutzgesetz.

    Lübecker Wissenschaftler kritisieren jetzt, dass das 1991 verabschiedete Gesetz dem wissenschaftlichen Fortschritt hinterher hinkt und für Mütter und Ungeborene erhebliche Risiken in sich birgt. "Zum einen reduzieren die engen gesetzlichen Vorgaben die Aussichten, überhaupt schwanger zu werden. Zum anderen erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit einer Mehrlingsschwangerschaft deutlich - mit erheblichen gesundheitlichen Gefahren für Mütter und Kinder", erklärt Prof. Dr. Klaus Diedrich, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universität Lübeck. Sein Fazit: "Das Embryonenschutzgesetz hat in wesentlichen Teilen versagt und ist dringend reformbedürftig."

    Diedrich weiß, wovon er spricht: Die Lübecker Klinik ist die einzige universitäre Einrichtung in Deutschland mit einem Forschungsschwerpunkt Reproduktionsmedizin. Dieser soll im Rahmen der Fusion zwischen Lübeck und Kiel zum Universitätsklinikum Schleswig-Holstein sogar noch ausgeweitet werden. Derzeit werden in Lübeck jährlich etwa 800 künstliche Befruchtungen vorgenommen - mit steigender Tendenz. Gleichzeitig ist hier in Zusammenarbeit mit der Ärztekammer Schleswig-Holstein in Bad Segeberg das bundesweite Register angelegt, in dem alle Behandlungen zur assistierten Fortpflanzung exakt dokumentiert werden. Die wissenschaftliche Leitung des Zentralregisters hat Prof. Ricardo Felberbaum inne, leitender Oberarzt der Lübecker Frauenklinik.

    Das deutsche Embryonenschutzgesetz sieht vor, dass eine Eizelle nur mit dem Ziel befruchtet werden darf, dass es zu einer Schwangerschaft kommt. Jeder Embryo, der im Labor entsteht, muss noch im selben Zyklus an die Patientin zurück gegeben werden; Embryonenforschung oder -konservierung sind verboten. "Nur durch For-schung kann es jedoch zu einer Verbesserung der Ergebnisse bei der künstlichen Befruchtung kommen", erläutert Diedrich, gleichzeitig Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. So ist zum Beispiel die Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der ein im Reagenzglas erzeugter Embryo vor dem Einnisten in die Gebärmutter auf Erbschäden untersucht wird, in Deutschland nicht zulässig, in den meisten benachbarten Ländern jedoch erlaubt. "Dieses Verfahren sollte zumindest bei Risikopatientinnen mit höherer Wahrscheinlichkeit für eine Chromosomenstörung gestattet sein. Auf diese Weise kann ein möglicher Schwangerschaftsabbruch verhindert werden, der immer dann in Frage kommen kann, wenn bei dem eingenisteten Embryo eine schwer wiegende Erbkrankheit festgestellt wird", erläuterte Diedrich.

    Ebenso nachteilig wirkt sich nach Angaben Diedrichs die so genannte Dreierregel des Embryonenschutzgesetzes aus: Während eines Zyklus dürfen höchstens drei Eizellen befruchtet und in die Gebärmutter transferiert werden. Mit diesem Vorgehen hatte der Gesetzgeber auf eine möglichst hohe Schwangerschaftsrate und ein begrenztes Risiko für Mehrlingsgeburten gehofft. "An beiden Punkten hat das Gesetz jedoch versagt", klagt Diedrich. Zum einen liegt die Schwangerschaftsrate mit den gängigen Verfahren In-vitro-Fertilisation (IvF, die typische Reagenzglasbefruchtung) und intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) bei etwa 25 Prozent pro Behandlungsversuch, während in anderen europäischen Staaten wie Frankreich, Belgien oder Schweden bis zu 50 Prozent erzielt werden.

    Noch belastender ist zum anderen jedoch die hohe Zahl an Mehrlingsgeburten: Unter den 9648 Säuglingen, die 2001 mit Hilfe künstlicher Befruchtung in Deutschland zur Welt kamen, waren 34,47 Prozent Zwillinge und 3,66 Prozent Drillinge. Diedrich: "Eine Mehrlingsschwangerschaft bedeutet sowohl für Mütter als auch für die meist frühgeborenen Kinder erhebliche Risiken. Sie ist für die Mutter mit einem Anstieg schwangerschaftsbedingter Erkrankungen (Bluthochdruck, Blutungsrisiko) und einer höheren Kaiserschnittrate verbunden. Zwillinge kommen zu 40, Drillinge sogar zu 80 Prozent zu früh auf die Welt. Dies erhöht die Säuglingssterblichkeit und geht oft einher mit Untergewicht und Unreife, was zu schweren Komplikationen führen kann."

    Im Rahmen einer bundesweiten Multicenter-Studie, an der unter Lübecker Leitung 59 reproduktionsmedizinische Zentren teilnahmen, haben die Mediziner eine erhöhte Fehlbildungsrate nach ICSI festgestellt. ICSI wird vor allem bei schlechter Samenqualität des Mannes angewendet. Dabei injiziert der Arzt ein einzelnes Spermium sie mit einer Mikropipette direkt in das Zytoplasma der weiblichen Eizelle. Bundesweit geschieht dies jährlich etwa 25 000 Mal. In der Studie wurden 3372 ICSI-Kinder (darunter 685 Mehrlinge) mit 6265 aus normal entstandenen Schwangerschaften vergleichen. Die Fehlbildungsrate in der ICSI-Gruppe betrug 8,6 Prozent; in der Kontrollgruppe waren es 6,8 Prozent. Das heißt, dass bei spontan eintretenden Schwangerschaften etwa bei jedem 15. Kind und nach ICSI bei annähernd jedem 12. Kind mit einer Fehlbildung zu rechnen ist.

    "Ziel der Kinderwunschbehandlung ist nicht allein die Schwangerschaft, sondern die Geburt eines gesunden Kindes", sagt Prof. Diedrich. "Dieses Ziel kann mit dem deutschen Embryonenschutzgesetz nicht erreicht werden." Er frage sich manches Mal, ob Ärzte die Behandlung unter diesen Voraussetzungen gegenüber den Patientinnen noch vertreten können. Er selbst empfiehlt Paaren mit Kinderwunsch des öfteren, eine Behandlung im Ausland vorzunehmen, wenn sie in Deutschland bereits erfolglose Versuche hinter sich haben. "In vielen europäischen Ländern besteht die Möglichkeit, einen einzelnen, zuvor ausgewählten Embryo in die Gebärmutter einzusetzen. Dies erhöht die Chance für eine Schwangerschaft deutlich und verhindert gleichzeitig eine Mehrlingsschwangerschaft. In Deutschland ist dieses Auswahlverfahren jedoch nicht erlaubt."

    Viele Krankenkassen in Deutschland, ergänzt Prof. Ricardo Felberbaum, haben diese eklatante Schwachstelle im Embryonenschutzgesetz bereits erkannt: "Wenn eine deutsche Frau zur Kinderwunschbehandlung nach Spanien reist und sich dort genau die befruchtete Eizelle einpflanzen lässt, die die günstigsten morphologischen Voraussetzungen für eine Schwangerschaft aufweist, bezahlt das ihre Kasse. In Deutschland dagegen kann noch nicht einmal das gleiche Verfahren angeboten werden, weil es verboten ist. Das ist doch aberwitzig!", klagt Felberbaum.

    Nach Angaben Diedrichs liegen bereits aus mehreren Ländern große Untersuchungsreihen vor, die bestätigen, dass durch Auswahl des frühen Embryos im Labor die Schwangerschaftsrate verbessert und die Mehrlingsschwangerschaft verhindert wird. In Finnland hat dies bereits dazu geführt, dass im ersten Behandlungsversuch nur noch der Transfer eines einzelnen ausgewählten Embryos zulässig ist. In Belgien wurde inzwischen berechnet, dass durch die Vermeidung von Mehrlingsschwangerschaften mehr Geld eingespart wird (u.a. bei der Intensivbehandlung Frühgeborener), als die künstliche Befruchtung an Kosten verursacht. "In den meisten Ländern hat sich die Gesetzgebung an die neuen Forschungsergebnisse angepasst. Nur wir hier in Deutschland leben auf einer einsamen Insel", konstatiert Prof. Diedrich.

    Hierzulande gebe es etwa 1,5 Millionen Paare mit unerfülltem Kinderwunsch, denen die deutlichen Verbesserungen der Reproduktionsmedizin versagt bleiben. Das könne so nicht weitergehen, sagt Diedrich. Er fordert: "Es muss alles versucht werden, durch eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes diese katastrophale Entwicklung für die ungewollt kinderlosen Paare und die meist zu früh geborenen Mehrlinge zu verhindern."

    Im November (20.-22.11.2003) findet in Lübeck das Jahrestreffen aller deutschen reproduktionsmedizinischen Zentren mit mehreren Hundert Teilnehmern statt. Bei dem Symposium werden die neuen Aspekte der Fortpflanzungsmedizin im Rahmen einer Podiumsdiskussion erörtert.

    Studie zur Polkörperdiagnostik läuft an

    Eine Studie, in der die Wirksamkeit der so genannten Polkörperdiagnostik untersucht werden soll, beginnt aller Voraussicht nach noch in diesem Jahr. Die Ethik-Kommission der Universität Lübeck hat nach Angaben von Prof. Klaus Diedrich, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtsmedizin, Ende August grünes Licht erteilt. An fünf geburtsmedizinischen Zentren sollen unter Federführung der Unikliniken Lübeck und Bonn 900 Frauen untersucht werden. In etwa zwei Jahren erwartet Diedrich erste aussagekräftige Ergebnisse.

    Polkörper werden bei der Reifeteilung der Eizelle ausgestoßen und beinhalten den Chromosomensatz der Eizelle. Untersucht man also den Polkörper, erhält man Aufschluss über die Eizelle. "Wir wissen, dass gerade bei älteren Frauen mit Kinderwunsch häufig der Chromosomensatz in den Eizellen gestört ist; bei 40jährigen Frauen ist etwa nur noch jede zweite Eizelle chromosomal intakt." Mit der Polkörperanalyse identifizieren Ärzte genau die Eizellen, die unbedenklich befruchtet werden können.

    Die Polkörperdiagnostik bietet im Gegensatz zur juristisch umstrittenen Präimplanta-tionsdiagnostik (PID) den Vorteil, dass sie an der unbefruchteten Eizelle durchgeführt werden kann. Dieses Verfahren ist somit nach dem Embryonenschutzgesetz zulässig und ethisch weniger angreifbar.

    Dennoch warnt Prof. Diedrich vor einer vorschnellen, flächendeckenden Einführung der Untersuchungsmethode. "Das Verfahren ist Erfolg versprechend und auch in unserer Klinik bereits angewendet worden. Die Wirksamkeit der Methode - Erhöhung der Schwangerschaftsrate und Senkung der Fehlbildungsrate nach erfolgter Polkörperdiagnostik - ist durch wissenschaftliche Studiendaten jedoch noch nicht belegt."

    An der Studie nehmen neben der Universitätsklinik Lübeck noch die Frauenkliniken in Bonn und Kiel sowie zwei reprodukionsmedizinische Zentren in Hamburg und Berlin teil.

    Uwe Groenewold / Wissenschaftsdienst Uni Lübeck


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    Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Lübecker Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
    Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Lübecker Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe

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    Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)
    Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Lübecker Universitätsklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe


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    Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)


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