Neue Studie über evangelische und katholische Einflüsse auf den Wohlfahrtsstaat in Deutschland – Protestantische Idee des fürsorglichen Staates versus katholische Vorstellungen von Solidarität – Öffentliche Buchvorstellung mit Sozialethikern Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter am 28. Juni in Münster – Kommentare von Friedhelm Hengsbach und Günter Brakelmann
Der deutsche Sozialstaat ist bis heute von einer Konkurrenz evangelischer und katholischer Vorstellungen von Arbeit, Staat und Solidarität in seiner Entstehungszeit geprägt. Das ergaben Studien am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. „Bis in die Gegenwart lassen sich entgegengesetzte religiöse Einflüsse des 19. und 20. Jahrhunderts im sozialen Sektor nachweisen“, so die Sozialethiker Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter. „Einerseits führte die lutherische Idee des fürsorglichen Staates ab 1850 dazu, dass nicht private, sondern staatliche Organisationen die Hauptverantwortung für die Wohlfahrt übernahmen. Andererseits beförderten katholische Ideen von Solidarität und Subsidiarität, dass nicht nur ein sozialer Träger, sondern eine Vielzahl aktiv wurde. Beides gilt bis heute.“ Die Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Ideen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel in eine Zeit, in der die Kirchen „wieder verschärft Interesse an konfessionellen Gegensätzen hatten“, so der katholische Theologe Gabriel und der evangelische Theologe Reuter. „Das setzte den Wettbewerb um die bessere Lösung frei.“
Die Forscher stellen den Band „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland“ aus dem Verlag Mohr Siebeck am Donnerstag, 28. Juni, öffentlich in Münster vor und diskutieren ihn mit den Sozialethikern und Theologen Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach und Prof. Dr. Günter Brakelmann. Zur Buchvorstellung laden das Centrum für Religion und Moderne (CRM) und der Exzellenzcluster ab 18.15 Uhr in den Raum KTh I, Johannisstraße 8-10, in Münster ein. Das Buch entstand im Rahmen eines Cluster-Projekts, das die bisher größte Studie zum Einfluss von Religionen auf Europas Sozialstaaten erstellt hat.
Mit der Vergleichsstudie „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa“ für 13 Staaten ließ sich 2013 erstmals der starke Einfluss von Religionsgemeinschaften auf die Entstehung europäischer Wohlfahrtsstaaten nachweisen. Es zeigte sich, dass vor allem dort, wo Staat und Kirchen sowie die Konfessionen miteinander konkurrierten, wie in Deutschland und den Niederlanden, sich Religionen intensiv für den Wohlfahrtssektor einsetzten. In Ländern wie Spanien oder Polen hingegen, wo der Katholizismus lange ein Monopol innehatte und eng an den Staat gebunden war, nahmen Religionen kaum Einfluss auf die bis heute schwächere Ausprägung von Sozialstaatlichkeit.
Arbeit, Armut, Familie
In dem neuen Sammelband gehen die vielen an der Studie beteiligten Autorinnen und Autoren begriffsgeschichtlich und wissenssoziologisch vor: Sie untersuchen Leitbegriffe sozialpolitischer Debatten, je aus evangelischer und katholischer Sicht, darunter institutionelle Semantiken wie „Arbeit“, „Armut“, „Staat“ und „Familie“ sowie Wertsemantiken wie „Sicherheit“, „Gerechtigkeit“, „Solidarität“. So legen sie eine „religiöse Tiefengrammatik“ des Sozialstaats dar. „Die Leitbegriffe gaben einen Korridor an Lösungen zur Gestaltung des Sozialstaats vor und grenzten unmögliche Lösungen aus, wie es der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann formuliert hat“, so die Herausgeber.
Evangelisches Arbeitsethos – katholisches Familienprinzip
Prägend waren auch verschiedene konfessionelle Vorstellungen von Arbeit und Familie, wie die Forscher darlegen: „Die lutherische Hochschätzung der Arbeit prägte maßgeblich die wohlfahrtsstaatlichen Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser Idee von Wert und Würde der Arbeit standen im Katholizismus lange vormoderne Deutungen von Arbeit als einem Heilmittel gegen die Sünde entgegen.“ Dem starken protestantischen Fokus auf die Ehe wiederum stand in Wohlfahrtsdebatten die katholische Betonung der Familie entgegen: „Sie wurde religiös überhöht und einem übermächtigen Staat entgegengesetzt.“ Daraus entstand das katholisch geprägte Subsidiaritätsprinzip, das bis heute etwa in der Europäischen Union praktiziert wird: Übergeordnete staatliche Instanzen sollen nur tätig werden, wenn kleinere Einheiten wie die Familie oder Gemeinden dies nicht leisten können.
Der Durchbruch zum Wohlfahrtsstaat im Deutschen Reich als einer „zentralen kulturellen Errungenschaft der Moderne“ trug somit protestantische Züge, so die Forscher. In der Weimarer Republik dann pochte der Sozialkatholizismus, in einer Koalition mit der Sozialdemokratie, auf eine stärkere Staatsunabhängigkeit. „Gegen einen übermächtigen Staat vertrat man die Vorstellung einer solidarischen Verantwortlichkeit der Menschen füreinander. So wurde ein Sozialsektor mit einer Vielzahl an Akteuren befördert.“
Teils kam es zwischen den Konfessionen auch zu Allianzen: „Wo der Katholizismus zunächst einem vormodernen Armutsverständnis verhaftet blieb, schloss er sich später stillschweigend protestantischen Armutsdiskursen an“, so die Herausgeber. Umgekehrt erzielte die Rezeption der katholischen Solidaritätsvorstellungen und des Subsidiaritätsprinzips im Protestantismus fruchtbare Wirkungen. Die Lage in Deutschland war laut den Wissenschaftlern besonders günstig für einen großen Einfluss der Konfessionen auf die Sozialstaatsentwicklung. „Wir haben im protestantisch geprägten Deutschen Reich ein kulturell tolerantes Verhältnis zwischen Christentum und Moderne, ein Gegenüber von Kirche und Staat, das die Austragung von Interessenkonflikten ermöglichte, und eine gemischt-konfessionelle Konstellation, die den Wettbewerb um die bessere Lösung freisetzte.“ (sca/vvm)
Hinweise:
Gabriel, Karl/ Reuter, Hans-Richard (Hrsg.): Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Konfessionen – Semantiken – Diskurse. Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 508 Seiten, ISBN 978-3-16-151718-1, 124,00 Euro.
Gabriel, Karl/Reuter, Hans-Richard/Kurschat, Andreas/Leibold, Stefan (Hgg.): Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 513 Seiten, ISBN: 978-3-16-151717-4, 89,00 Euro.
https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2018/jun/PM_Konkurren...
Prof. Dr. Karl Gabriel (Foto: Exzellenzcluster „Religion und Politik“/ Brigitte Heeke)
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Prof. Dr. Hans-Richard Reuter (Foto: Exzellenzcluster „Religion und Politik“/ Brigitte Heeke)
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Religion
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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