idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
25.06.2018 10:05

Kinder- und Jugendärzte warnen: Insektensterben bedroht auch die Zukunft unserer Kinder und Enkel

Dr. Ulrich Kümmel Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin e. V.

    Kinder- und Jugendärzte fordern vor dem Hintergrund eines konstanten Rückgangs der gesamten Biomasse fliegender Insekten einen konsequenten, ökologischen Umbau der landwirtschaftlichen Produktionsweise. Allein dadurch kann die biologische Diversität der Insekten-, Vogel- und Pflanzenwelt in Deutschland und Europa und damit eine enkeltaugliche Zukunft unserer Kinder gesichert werden. Weder das Klima noch Änderungen im Landschaftsbild können laut Expertenmeinung als Erklärung für den Rückgang dienen. Vielmehr verantwortlich sind die intensiven Praktiken der Landwirtschaft wie die Nutzung von Pflanzenschutzmitteln, Dünger sowie die Beseitigung von Blühstreifen und Hecken entlang der Felder.

    „Mehr als 75% Rückgang der gesamten Biomasse fliegender Insekten in geschützten Gebieten in 27 Jahren“ – so betitelte das Forscherteam um Hallmann seine im Oktober 2017 veröffentlichte und seither oft zitierte Longitudinalstudie [1], in der in 63 Naturschutzgebieten Deutschlands über einen Zeitraum von 27 Jahren die gefangene Biomasse bei Fluginsekten analysiert wurde. Im Hochsommer, wenn die Insektenbiomasse ihr Maximum erreicht, konnte sogar ein Rückgang um 81,6% festgestellt werden. An diesen massiven Verlusten sind nicht nur ohnehin gefährdete Arten wie Schmetterlinge, Wildbienen und Motten beteiligt, vielmehr ist die gesamte fliegende Insektengemeinschaft betroffen. Weder das veränderte Klima noch Änderungen im Landschaftsbild können laut den Experten als Erklärung dienen, sie benennen dafür die intensiven Praktiken der Landwirtschaft wie die Nutzung von Pflanzenschutzmitteln und Dünger als auch die Beseitigung von Blühstreifen und Hecken entlang der Felder, denn 94% der untersuchten Naturschutzgebiete sind von zunehmend durch Monokulturen geprägten Nutzflächen umschlossen.

    Schon vor mehr als 10 Jahren waren in den USA ca. 23% der Bienenzüchter vom Phänomen des Völkerkollaps oder auch „Bienensterben“ betroffen [2], eine Beobachtung, die später auch in Europa gemacht wurde. Hierbei kam es bei der westlichen Honigbiene zu einem bis dato unerklärlichen Verschwinden von Arbeiterbienen. Als mögliche Ursachen des Völkerkollapses konnten einige Faktoren identifiziert werden wie die beiden parasitären Organismen Varroa destructor, eine Milbe, und die Mikrosporidien Nosema spp. V. destructor kann überdies pathogenes Material in Form von schädlichen Viren auf ihren Wirt übertragen. Auch bakterielle Brutkrankheiten wie die amerikanische und europäische Faulbrut können Bienenstämmen ernsten Schaden zufügen [3]. Zwar ist weltweit von 1961−2014 dank steigender Zahlen in Asien ein Wachstum der Bestände an domestizierten Bienenstöcken um etwa 55% zu verzeichnen [4]. Gleichwohl sind geschätzte 40% der wilden Bestäuber, insbesondere Bienen, vom Aussterben bedroht [4].

    Mitverantwortlich sind dafür auch die sog. Neonicotinoide, die bei Insekten neurotoxisch wirken und zu deren Paralyse und zum Tod führen [5]. Seit mehr als 20 Jahren wurden sie bevorzugt in der Saatgutbeize eingesetzt, so dass die daraus wachsende Pflanze vor saugenden und beißenden Schädlingen geschützt ist. Deren Pollen und Nektar dient Bienen wiederum als Nahrungsquelle. Viele Studien haben seither die schädliche Wirkung von Neonicotinoiden bewiesen [6]. Nach einem langen Entscheidungsprozess hat der zuständige EU-Ausschuss Ende April 2018 ein endgültiges Verbot für den Einsatz unter freiem Himmel − also auch für die Saatgutbeizung − und das Wintergetreide verfügt, lediglich in geschlossenen Treibhäusern ist er noch erlaubt [7].

    Die gravierenden Veränderungen der Biomasse und der Insektenzusammensetzung haben enorme mittel- und langfristige Konsequenzen: Wildbienen bestäuben zusammen mit ihren domestizierten Verwandten und anderen Insekten geschätzte 35% der weltweiten Kulturpflanzen [8], darunter viele vitaminreiche Lebensmittel. Der vermutete monetäre Wert von Kulturpflanzen, welche direkt von Bestäubern beeinflusst werden, liegt jährlich bei 235 − 557 Milliarden US-Dollar [4]. Dieser Sektor der Landwirtschaft ist in den letzten 50 Jahren um 300% angewachsen und somit überproportional zum Wachstum der gehaltenen Bienenvölker [9]. Auch fast 90% der wildblühenden Pflanzen sind in gewissem Maße von Tierbestäubung abhängig [4]. In der Folge bewirkt das Insektensterben eine ökologische Kettenreaktion: Die Zahl und Vielfalt von Wildkräutern nimmt genauso ab wie die der Vögel.

    Umbau der landwirtschaftlichen Produktionsweise
    Eine sinnvolle Maßnahme, die den massiven Rückgang an Insekten aufhalten könnte, ist z. B. die Förderung blühender Feldgrenzen. Eine kürzlich erschienene Publikation belegt, dass Kulturlandschaften, die eine höhere Dichte an Feldgrenzen haben, auch einen höheren Wildbienenreichtum aufweisen und dadurch die Bestäuberbewegung über größere Flächen erleichtert wird [10]. Als wichtiger Nebeneffekt könnte so auch ein Teil der Biodiversität von Wildpflanzen in Agrarlandschaften gewahrt werden.

    Dieses Vorgehen entspricht prinzipiell auch der publizierten Sichtweise des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Danach steht ökologischer Landbau für ein „Wirtschaften im Einklang mit der Natur“, bei dem die natürlichen Ressourcen geschont und erhalten werden. So soll durch den Verzicht auf chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel und durch ein niedriges Düngeniveau eine, im Vergleich zu konventionell bewirtschafteten Flächen, erhöhte Artenvielfalt erreicht werden [11].

    Im Einklang mit der Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz, Frau Prof. Beate Jessel, fordern die Unterzeichner deshalb ein rasches und grundlegendes Umdenken in der Agrarpolitik. Jessel betont bei der Vorstellung einer Publikation zu „Naturschutz in der Agrarlandschaft“ am 4.6.2018: „Die EU sollte kein Geld mehr in Direktzahlungen stecken, die nach dem Gießkannenprinzip auf Landwirtschaftsflächen verteilt werden – weitgehend unabhängig davon, wie naturfreundlich oder -schädlich sie bewirtschaftet werden.“ Zusammen mit etlichen Experten fordert sie die Notwendigkeit einer deutlich verbesserten Finanzmittelausstattung für den Naturschutz mit gezielten Förder-programmen für die nachhaltige und naturschonende Bewirtschaftung und die ländliche Entwicklung und lehnt damit Kürzungen ab, wie sie der Entwurf der EU-Kommission zur Haushaltsplanung ab 2021 vorsieht [12].

    Die Unterzeichner sind davon überzeugt, dass nur durch den konsequenten, ökologischen Umbau der landwirtschaftlichen Produktionsweise die biologische Diversität der Insekten-, Vogel- und Pflanzenwelt in Deutschland und Europa und damit eine enkeltaugliche Zukunft unserer Kinder gesichert werden kann!

    Unterzeichner:
    Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte – www.bvkj.de
    Gesellschaft Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin – www.gpau.de
    Kinderumwelt gGmbH - www.kinderumwelt.de

    Verfasser:
    Dr. Thomas Lob-Corzilius, Kinder- und Jugendarzt, Allergologie, Kinderpneumologie, Umweltmedizin, Osnabrück
    Ricarda Dehmer, Bachelor of Science Biologie (TU Darmstadt) Frankfurt

    Literatur:
    [1] Hallmann CA, Sorg M, Jongejans E et al. More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. Plos One 2017; 285(1872)
    [2] Van Engelsdorp D, Underwood R, Caron D, Hayes J Jr. An estimate of managed colony losses in the winter of 2006-2007: A report commissioned by the apiary inspectors of America. American Bee Journal 2007; 147(7): 599-603
    [3] Goulson D, Nicholls E, Botías C et al. Bee declines driven by combined stress from parasites, pesticides, and lack of flowers. Science 2015: 347 (6229) 1255957-1255957
    [4] http://www.fao.org/news/story/en/item/384726/icode/ (Stand April 2018)
    [5] Tomizawa M, Casida JE. Neonicotinoid Insecticide Toxicology: Mechanisms of Selective Action. Annual Review of Pharmacology and Toxicology 2005: 45(1), 247-2 68
    [6] https://www.efsa.europa.eu/de/press/news/180228 (Stand April 2018)
    [7] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pestizide-eu-staaten-verbieten-bienenschaedliche-neonikotinoide-1.3959435
    [8] Klein AM, Vassière BE, Cane JH et al. Importance of pollinators in changing landscapes for world crops. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 2007; 274(1608): 303-313
    [9] Happe AK, Riesch F, Rösch V et al. Small-scale agricultural landscapes and organic management support wild bee communities of cereal field boundariesAgriculture, Ecosystems and Environment 2017: 254: 92–98
    [10] Hass AL, Kormann UG, Tscharntke T et al. Landscape configurational heterogeneity by small-scale agriculture, not crop diversity, maintains pollinators and plant reproduction in western Europe. Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 2018: 285(1872)
    [11] https://www.bmel.de/DE/Landwirtschaft/Nachhaltige-Landnutzung/Oekolandbau/_Texte... (Stand April 2018)
    [12] https://www.bfn.de/presse/pressemitteilung.html (Stand Juni 2018)


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).