idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
06.08.2018 11:15

Hitler: Wahlkämpfer mit wenig Einfluss?

Julia Wandt Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Konstanz

    Politikwissenschaftler der Universität Konstanz und der Hertie School relativieren das Bild des Diktators als einer der einflussreichsten Redner in der Geschichte mittels einer umfassenden Datenanalyse der Auftritte Hitlers und der Wahlergebnisse zwischen 1927 und 1933

    In der Zeit zwischen 1927 und 1933 fanden in Deutschland fünf Reichstagswahlen sowie die Wahl zum Reichspräsidenten statt. Das Wahlergebnis der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) steigerte sich innerhalb dieser Zeit von marginalen drei auf satte 44 Prozent. Der unmittelbare Einfluss der 455 öffentlichen Auftritte, die Adolf Hitler in dieser Zeit absolvierte, auf die Wählerentscheidung war allerdings erstaunlich gering. Das belegen Forschungsergebnisse von Professor Peter Selb an der Universität Konstanz und Dr. Simon Munzert an der Hertie School of Governance, die im American Political Science Review (APSR) erscheinen werden.

    Selb und Munzert analysieren die Wahlstatistiken aus 1.000 Landkreisen und Bezirken sowie aus 3.864 Kommunen. Sie ziehen ferner Informationen über Hitlers Kampagnenrouten, NSDAP-Parteimitgliedszahlen sowie Teilnehmerzahlen für die einzelnen Veranstaltungen hinzu. Auch die Auftritte von Joseph Goebbels, dem zweitwichtigsten Redner der NS-Bewegung, werden berücksichtigt. Mittels der statistischen Methode der „Differenz von Differenzen“ vergleichen die Wissenschaftler die Entwicklung von Wahlergebnissen in Gebieten, in denen Hitler öffentliche Reden hielt, mit den Entwicklungen in ähnlichen Gebieten, in denen er nicht auftrat.

    „Wir sind überrascht, wie marginal der Effekt von Hitlers Wahlauftritten war, obwohl ihm von Zeitzeugen und Historikern gleichermaßen überragende rhetorische Fähigkeiten attestiert werden“, so Selb und Munzert. Die Datenauswertung belegt flächendeckend aber nur geringe Auswirkungen, die zudem räumlich und zeitlich sehr begrenzt waren. Den Wissenschaftlern zufolge schlug Hitlers persönliches Engagement nur in der Stichwahl um das Amt des Reichspräsidenten von 1932 positiv zu Buche, die nach einem ungewöhnlich kurzen, intensiven und einseitigen Wahlkampf – Konkurrent Hindenburg absolvierte keinerlei öffentliche Auftritte – stattfand und Hitler etwa zwei Millionen zusätzliche Stimmen, nicht aber den Wahlsieg einbrachte. Hier schätzen die Autoren einen Effekt von einem bis zwei Prozentpunkten Stimmenzuwachs für die NSDAP in Landkreisen und Bezirken, in deren unmittelbarer Nähe Hitler vor der Wahl einen öffentlichen Auftritt absolvierte.

    Die Ergebnisse sind umso bemerkenswerter, als Hitlers Wahlkampf als einer der historisch wahrscheinlichsten Fälle für starke Kampagneneffekte gilt. Im Gegensatz zu seinen politischen Konkurrenten setzte er neue Techniken ein, wie den Lautsprecher und das Flugzeug, mit dem er das Land bereiste. Dies ermöglichte ihm flächendeckende Präsenz und ein Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit, wie sie für damalige Verhältnisse beispiellos war. „Es ist erstaunlich, dass die öffentlichen Auftritte und Reden, die Hitler in seinen frühen Jahren als Populist und Parteiführer hielt, nicht besonders einflussreich waren, insbesondere im Vergleich mit den Propagandaerfolgen, die auch neuere Studien ihm als Diktator zusprechen“, ergänzen Selb und Munzert. Nach 1933 entfaltete die Nazi-Propaganda mit Hitler an der Spitze im Zuge der Gleichschaltung eine starke Durchschlagskraft mit langfristigen Auswirkungen auf die kollektive Wahrnehmung, Gesinnung und das Verhalten der Menschen, wie empirisch fundierte Studien belegen.

    „Andere Studien betonen die entscheidende Rolle der wirtschaftlichen und politischen Zeitumstände, also Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not, die mangelnde Unterstützung für die Demokratie, die Entfremdung zwischen etablierten Parteien und Wahlvolk sowie die Schwäche staatlicher Institutionen für den Aufstieg der NSDAP. Wir können bestätigen, dass die Bedeutung Hitlers als charismatischer Redner demgegenüber zurücktritt“, so Selb und Munzert weiter. Auf der Grundlage dieses historischen Belegs empfehlen die Wissenschaftler, auch die herkömmliche Meinung, dass charismatische Führungsfiguren einen entscheidenden Erfolgsfaktor für den Aufstieg zum Beispiel rechtspopulistischer Bewegungen darstellen, mit Skepsis zu betrachten.

    Peter Selb ist Professor für Umfrageforschung am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz. Er beschäftigt sich mit politischem Verhalten, öffentlicher Meinung und mit den Methoden der Meinungsforschung. Er war Projektleiter der Schweizerischen Wahlstudie und ist an der Konstanzer Forschungsinitiative „The Politics of Inequality“ beteiligt, die zurzeit am Wettbewerb der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder teilnimmt.

    Simon Munzert ist Lecturer in Political Data Science an der Hertie School of Governance in Berlin. Zu seinen Forschungsinteressen zählen Dynamiken öffentlicher Meinung sowie die Rolle neuer Medien für politische Prozesse. Er ist Leiter des internationalen Kooperationsprojekts „Media Exposure and Opinion Formation in an Age of Information Overload“, das von der Volkswagen-Stiftung gefördert wird, sowie Stipendiat der Daimler-und-Benz-Stiftung. Er wurde an der Universität Konstanz promoviert.

    Originalveröffentlichung:
    Selb, P., & Munzert, S. (2018) Examining a Most Likely Case for Strong Campaign Effects: Hitler’s Speeches and the Rise of the Nazi Party, 1927–1933. American Political Science Review Bis zum Erscheinen der Ausgabe von ASPR können Sie den Artikel unter folgendem Link nachlesen: https://osf.io/vyds8/

    Faktenübersicht:
    - Neue Studie von Politikwissenschaftlern aus Konstanz und Berlin untersucht die Auswirkungen, die Hitlers Wahlkampfauftritte zwischen 1927 und 1933 auf den Aufstieg der NSDAP in der Weimarer Republik hatten.
    - Prof. Dr. Peter Selb vom Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz und Dr. Simon Munzert von der Hertie School of Governance in Berlin zeigen auf, dass Hitlers Wahlkampfauftritte nur einen geringen Einfluss auf den Wahlerfolg der Nazis hatten.
    - Die Ergebnisse basieren auf umfangreichen historischen Informationen zu Hitlers 455 öffentlichen Auftritten sowie unter anderem auf Wahlstatistiken aus 1.000 Landkreisen und Bezirken sowie aus 3.864 Kommunen.
    - Die Autoren nutzen die „Differenz von Differenzen“-Methode, um die Entwicklung von Wahlergebnissen in Gebieten, in denen Hitler öffentliche Reden hielt, mit solchen zu vergleichen, in denen dies nicht geschah.
    - Die empirischen Ergebnisse der Studie stellen die herkömmliche Meinung in Frage, dass rechtspopulistische Parteien einer charismatischen Führungsfigur bedürfen, um Wahlerfolge zu erzielen.

    Hinweis an die Redaktionen:
    Fotos können im Folgenden heruntergeladen werden:

    Bild-Link: https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2018/Bilder/Hitler_Reden_Sel...
    Bildunterschrift: Orte Hitlers öffentlicher Auftritte zwischen März 1927 und März 1933 nach Wahlperiode.
    Bild: Simon Munzert und Peter Selb

    Bild-Link: https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2018/Bilder/Hitler_Reden_Sel...
    Bildunterschrift: Veränderung des NSDAP-Wahlanteils in Landkreisen und kreisfreien Städten zwischen den Weimarer Reichstagswahlen im September 1930 und Juli 1932. Rote Punkte markieren Hitlers Auftrittsorte zwischen beiden Wahltagen.
    Bild: Simon Munzert und Peter Selb

    Bild-Link: https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2018/Bilder/Hitler_Reden_Sel...
    Bildunterschrift: Hitlers öffentliche Auftritte im Zeitverlauf zwischen März 1927 und März 1933. Er hielt bis zu fünf öffentliche Auftritte pro Tag ab; die Auftrittshäufigkeit intensivierte sich regelmäßig vor dem Wahltag.
    Bild: Simon Munzert und Peter Selb

    Bild-Link: https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2018/Bilder/Hitler_Reden_Sel...
    Bildunterschrift: Dr. Peter Selb, Professor für Umfrageforschung am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz
    Bild: Universität Konstanz

    Bild-Link: https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2018/Bilder/Hitler_Reden_Sel...
    Bildunterschrift: Dr. Simon Munzert, Lecturer in Political Data Science an der Hertie School of Governance in Berlin
    Bild: Universität Konstanz

    Kontakt:
    Universität Konstanz
    Kommunikation und Marketing
    Telefon: + 49 7531 88-3603
    E-Mail: kum@uni-konstanz.de

    - http://uni.kn


    Originalpublikation:

    Selb, P., & Munzert, S. (2018) Examining a Most Likely Case for Strong Campaign Effects: Hitler’s Speeches and the Rise of the Nazi Party, 1927–1933. American Political Science Review
    Bis zum Erscheinen der Ausgabe von ASPR können Sie den Artikel unter folgendem Link nachlesen: https://osf.io/vyds8/


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).