Die Ringvorlesung des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität Gießen beleuchtet Krisenphänomene und Chancen, die ein vereintes Europa für die Zukunft bietet –
Auftakt der Veranstaltungsreihe am 15. Oktober 2018
Europa sei eine Welt von gestern, so lautete das verzweifelte Vermächtnis des Schriftstellers Stefan Zweig mitten in der Katastrophe des Kontinents. Nach 1945 ist der Westen wie ein Phönix aus der Asche auferstanden, im Jahr 1990 wurde die auf der Konferenz von Jalta beschlossene Teilung Deutschlands überwunden. Doch heute mehren sich Stimmen, die Europa erneut bedroht sehen – von innen und von außen. Die Ringvorlesung des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) nimmt in diesem Wintersemester unter dem Titel „Europa. Eine Welt von gestern?” aus verschiedenen Blickwinkeln eine Zeitdiagnose vor und behandelt aktuelle Krisenphänomene, aber auch die Chancen, die ein vereintes Europa als Welt von morgen hat. Im Jahr vor der Wahl zum neunten Europäischen Parlament bietet die JLU damit wertvolle Einblicke in einen hochaktuellen Themenkomplex.
Das Spektrum der Veranstaltungen und Vorträge reicht von der Rolle des deutsch-französischen Verhältnisses über Werte und kulturelle Voraussetzungen für eine europäische Identität, über den europäischen Integrationsprozess, der nicht allein eine Angelegenheit der Politik ist, sondern auch die Gesellschaften und die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger verändert, über Mitwirkungsmöglichkeiten und rechtliche Vorgaben bis hin zur Rolle der Universitäten und weiterer Institutionen. Die Reihe richtet sich gleichermaßen an ein universitäres Publikum und an die Öffentlichkeit in Stadt und Region. Alle Vorträge finden in der Aula im Universitätshauptgebäude (Ludwigstraße 23, 35390 Gießen) statt. Sie beginnen jeweils um 19.15 Uhr. Der Eintritt ist frei.
JLU-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee lädt alle Interessierten herzlich ein zu der öffentlichen Veranstaltungsreihe, die ihren festen Platz im akademischen Kalender hat und zu einer guten Tradition an der JLU geworden ist: „Europa ist kein Selbstläufer. In einer Zeit großer gesellschaftlicher Herausforderungen unter schwierigen politischen Vorzeichen kommt es umso mehr darauf an, die europäische Identität zu stärken und das ,Projekt Europa‘ gemeinsam weiter voranzutreiben. Auch im Hinblick auf die Europawahl 2019 widmen wir uns daher an der JLU in diesem Wintersemester aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen dem wichtigen Zukunftsthema Europa. Dankbar bin ich dem renommierten Politikwissenschaftler und Inhaber der Ludwig-Börne-Professur, Prof. Dr. Claus Leggewie, dass er die aktuelle Ringvorlesung koordiniert hat und freue mich auf vielfältige Impulse.“
Die Veranstaltungsreihe beginnt am Montag, 15. Oktober 2018, mit einem Gespräch von Prof. Dr. Claus Leggewie mit dem deutsch-französischen Politologen und Publizisten Prof. Dr. Alfred Grosser zur Bedeutung des deutsch-französischen Verhältnisses als Motor für die europäische Entwicklung. Welches Potenzial steckt noch in dieser Freundschaft? Warum haben deutsche und europäische Politikerinnen und Politiker so verhalten auf die Initiativen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron reagiert? Und wie kann sich Europa gegen die Autokraten allerorts zur Wehr setzen?
Prof. Dr. Alfred Grosser wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten emigrierte er mit seiner Familie 1933 nach Frankreich und wurde im Zweiten Weltkrieg Mitglied der französischen Widerstandsbewegung. Seit 1955 wirkt er als Professor an der Sorbonne in Paris. Alfred Grosser zählt zu den geistigen Wegbereitern der Annäherung und Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich in den Jahren nach 1945. Für seine Verdienste erhielt er zahlreiche Preise und Ehrungen: Dazu zählen neben dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1975) und der Theodor-Heuss-Medaille (1978) u. a. die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main (1986). Für sein publizistisches Lebenswerk erhielt er den Henri-Nannen-Preis (2014). Im Wintersemester 2017/18 übernahm er die Mercator-Professur der Universität Duisburg-Essen.
Im darauffolgenden Vortrag am 22. Oktober 2018 geht Prof. Dr. Christine Landfried der Frage nach: „Warum klappt es nicht mit einem Europa der Bürger und wie können wir das ändern?“ Ein immer größerer Teil der Europäerinnen und Europäer fühlt sich Europa nicht zugehörig. Für ein demokratisches Europa der Bürger fehlen trotz zahlreicher Mitwirkungsmöglichkeiten in Wahlen oder der Europäischen Bürgerinitiative noch immer die kulturellen Voraussetzungen. Dazu gehört das Engagement der Bürger für eine gemeinsame europäische Zukunft. Ein solches Engagement kann jedoch nicht entstehen, wenn in den EU-Mitgliedstaaten der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchig wird.
Prof. Dr. Christine Landfried ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und Senior Fellow an der Hertie School of Governance, Berlin. Von 2014 bis 2016 hatte sie den Max-Weber-Lehrstuhl an der New York University inne. Sie lehrte an der Sciences Po in Paris, an der University of California in Berkeley und an der Yale Law School. Christine Landfried erhielt den Schader-Preis 2016 für ihre Beiträge zum Dialog zwischen den Gesellschaftswissenschaften und der Praxis. Sie forscht zur
politischen Rolle der Verfassungsgerichte, zum Einfluss der Politikfinanzierung auf demokratisches Regieren und zur europäischen Integration. In ihren Arbeiten zur EU untersucht sie die Bedingungen, die es ermöglichen könnten, kulturelle, ökonomische und politische Differenz als Potenzial für das Regieren jenseits des Nationalstaates zu nutzen.
Unter dem Titel „Gemeinsame europäische Werte – Fiktion oder Wirklichkeit?“ richtet Prof. Dr. Angelika Nußberger am 19. November 2018 in ihrem Vortrag den Fokus darauf, dass auch Selbstverständliches in Frage gestellt werden kann. Eine Vielzahl von Verträgen lassen sich aufzählen, die ein rechtsstaatliches, gemeinsamen Grundwerten verpflichtetes Europa formen: die Römischen Verträge und ihre mit Städtenamen wie Maastricht und Lissabon verbundenen Neuauflagen, die Satzung des Europarats, die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Protokolle. Sie alle verweisen auf ein europäisches Erbe, auf gemeinsame Traditionen. Im Mittelpunkt stehen die Menschenrechte, die nicht nur als Lippenbekenntnisse, sondern als gegen den Staat einforderbare Rechte verstanden werden. War es eine Fiktion, für Europa gemeinsame Klammern zu definieren – Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat? Sind diese Klammern so locker, dass darunter letztlich alles zu fassen ist? Oder bricht nach Jahrzehnten auseinander, was bereits gut zusammengefügt zu sein schien?
Prof. Dr. Angelika Nußberger ist seit Februar 2017 Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Sie wurde von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats im Jahr 2010 als deutsche Richterin für ein neunjähriges Mandat gewählt und trat ihr Amt im Januar 2011 an. Vor ihrer Tätigkeit in Straßburg war sie u. a. Prorektorin für Akademische Karriere, Diversität und Internationales an der Universität zu Köln und stellvertretendes Mitglied der Venedigkommission des Europarats. Im Jahr 2010 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Staatlichen Universität Tiflis verliehen; 2015 hat sie den Schader-Preis erhalten. Sie ist Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags, des Präsidiums des Instituts für Rechtspolitik, des Senats der Schader-Stiftung, des Kuratoriums des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht und der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung sowie Alumna der Studienstiftung des Deutschen Volkes.
Im Vortrag „Wider die Silikonisierung Europas: Plädoyer für eine andere digitale Öffentlichkeit“ am 10. Dezember 2018 argumentiert Dr. Emmanuel Alloa, dass wir einem gigantischen Missverständnis aufsitzen, wenn wir meinen, die Digitalisierung befördere automatisch mehr Stimmenvielfalt und Beteiligungsmöglichkeiten. Allen Versprechen des Silicon Valley zum Trotz sei Technologie niemals neutral, und Europa brauche endlich ein Bewusstsein dafür, dass es keine transparenten Medien gibt. Nur auf dieser Basis, so Alloa, lassen sich tragfähige Architekturen für einen europäischen digitalen Raum entwerfen.
Dr. Emmanuel Alloa ist Research Leader in Philosophie an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen, wo er von 2012 bis 2016 Assistenzprofessor war. Er studierte in Freiburg im Breisgau, Padua, Berlin und Paris und lehrte u. a. am Collège international de Philosophie und an der Universität Paris 8. Emmanuel Alloa war Fellow und Gastprofessor an der Columbia University, am IKKM Weimar, an der Universidade Belo Horizonte, an der Universität Lyon III und der Universität Wien. Er forscht an der Schnittstelle von Kulturphilosophie, Medientheorie, Ästhetik und Sozialphilosophie. Im Jahr 2016 erhielt Alloa den Latsis-Preis für seine wissenschaftlichen Leistungen, und 2017 war er Thinker in Residence an der Königlich Belgischen Akademie der Wissenschaften und Künste.
Gegenwärtig ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Unlängst erschien von ihm der Band Transparency, Society, Subjectivity. Critical Perspectives (hg. mit Dieter Thomä, London: Palgrave Macmillan 2018).
Im ersten Vortrag des neuen Jahres, am 21. Januar 2019, beleuchtet Prof. Dr. Peter-André Alt in seinem Beitrag mit dem Titel „Universitäten für Europa“ die Anfänge der europäischen Universitäten im Mittelalter, ihre Verfassung, Organisation und die transnationale Idee einheitlicher Wissenschaft. Er befasst sich anschließend mit der Frage, was Universitäten im 21. Jahrhundert zu einem friedlichen und freiheitlichen Europa im Zeichen produktiver Zusammenarbeit beisteuern können. Als Orientierungsrahmen dient ihm dabei Emmanuel Macrons Vision eines neuen Europa der Wissenschaften, die er aufgreift und weiterentwickelt.
Seit dem 1. August 2018 ist Prof. Dr. Peter-André Alt Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Er hat eine ordentliche Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft inne, zunächst an der Ruhr-Universität Bochum (1995 bis 2002), danach an der Universität Würzburg (2002 bis 2005), seit 2005 an der Freien Universität Berlin. Von Juni 2010 bis Juli 2018 war Peter-André Alt Präsident der Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler Beiräte großer Wissenschafts- und Kulturorganisationen. Zudem ist er u. a. Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Brandenburger Tor, des Wissenschaftlichen Beirats des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt am Main, des Internationalen Beirats der Ludwig Boltzmann Gesellschaft in Österreich und des Chinese Scholarship Council in Peking. Als Kolumnist publiziert er regelmäßig zu wissenschaftspolitischen Themen.
Im Vortrag mit dem Titel „Europäische Vergesellschaftung: Das Europa der Leute“ legt Prof. Dr. Steffen Mau am 28. Januar 2019 den Fokus auf den europäischen Integrationsprozess, der nicht allein eine Angelegenheit der Politik ist, sondern auch die Gesellschaften und die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger verändert. Der europäische Integrationsprozess schafft neue Netzwerke, neue Formen von Mobilität und mehr grenzüberschreitenden Austausch. Steffen Mau interessiert sich für diese „horizontale Europäisierung“ und fragt, wie dadurch neue Solidaritäten, Ungleichheiten und Konflikte hervorgebracht werden.
Prof. Dr. Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war er Professor für Politische Soziologie in Bremen. Er hat an der Freien Universität Berlin studiert und wurde am European University Institute in Florenz promoviert. Von 2012 bis 2018 war Steffen Mau Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats. Er ist u. a. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen soziale Ungleichheit, Europäisierung, Migration und Grenzforschung. Von ihm erschienen u. a. die Bücher „Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen“ (Suhrkamp 2017), „Inequality, Marketization and the Majority Class. Why did the European Middle Classes accept Neoliberalism?“ (Palgrave 2015) und „Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?“ (Suhrkamp 2012).
Zum Abschluss der Vorlesungsreihe liest der in Köln lebende Schriftsteller Navid Kermani am Donnerstag, 7. Februar 2019, aus seinem Buch „Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“. Der literarische Text ist eine Spurensuche in einem immer noch fremd anmutenden, von Kriegen und Katastrophen zerklüfteten Gebiet, das östlich von Deutschland beginnt und sich über Russland bis zum Orient erstreckt. Navid Kermani ist entlang der Gräben gereist, die sich gegenwärtig in Europa neu auftun: von seiner Heimatstadt Köln nach Osten bis ins Baltikum und von dort südlich über den Kaukasus
bis nach Isfahan, die Heimat seiner Eltern. Mit untrüglichem Gespür für sprechende Details erzählt er in seinem Reisetagebuch von vergessenen Regionen, in denen auch heute Geschichte gemacht wird.
Im Anschluss an die Lesung werden in einem von Prof. Dr. Claus Leggewie moderierten Autorengespräch die für die Ringvorlesung relevanten Aspekte vertieft.
Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für seine Romane, Essays, Reportagen und Monographien wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2015). Sein Buch Entlang den Gräben erschien im Frühjahr des Jahres 2018 und stand viele Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Von der Literaturkritik wurde es begeistert aufgenommen. Für den Bayerischen Rundfunk ist „Entlang den Gräben“ ein „überwältigendes Reisetagebuch“. Die Berliner Zeitung urteilte: „Kermanis beispielhafte Stärke liegt darin, dass er die Werte, die den seinen entgegengesetzt sind, wahr- und vor allem ernst nimmt. Er lernt.“
Termine
15. Oktober 2018 • Gespräch • Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Alfred Grosser
Deutschland-Frankreich: Motoren Europas?
22. Oktober 2018 • Prof. Dr. Christine Landfried
Warum klappt es nicht mit einem Europa der Bürger und wie können wir das ändern?
19. November 2018 • Prof. Dr. Angelika Nußberger
Gemeinsame europäische Werte – Fiktion oder Wirklichkeit?
10. Dezember 2018 • Dr. Emmanuel Alloa
Wider die Silikonisierung Europas: Plädoyer für eine andere digitale Öffentlichkeit
21. Januar 2019 • Prof. Dr. Peter-André Alt
Universitäten für Europa
28. Januar 2019 • Prof. Dr. Steffen Mau
Europäische Vergesellschaftung: Das Europa der Leute
7. Februar (Donnerstag) 2019 • Lesung und Autorengespräch • Navid Kermani
Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan
Alle Vorträge finden jeweils um 19.15 Uhr in der Aula im Universitätshauptgebäude, Ludwigstraße 23, 35390 Gießen, statt.
Prof. Dr. Claus Leggewie
Inhaber der Ludwig-Börne-Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen
Zentrum für Medien und Interaktivität
Ludwigstraße 34, 35390 Gießen
Telefon: 0641 99-16351
E-Mail: claus.leggewie@zmi.uni-giessen.de
http://www.uni-giessen.de/ringvorlesung
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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