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10.10.2003 17:21

Wollen die Deutschen sich das Geschlecht ihrer Kinder aussuchen können?

Christel Lauterbach Presse, Kommunikation und Marketing
Justus-Liebig-Universität Gießen

    Ergebnisse einer FORSA-Umfrage von Gießener Forschern in "Human Reproduction" veröffentlicht: Erstaunlich wenige Menschen in Deutschland haben ein Interesse daran, sich das Geschlecht ihrer Kinder auszusuchen

    Seit alters her haben die Menschen nach Mitteln und Wegen gesucht, um das Geschlecht ihrer Kinder beeinflussen zu können. So hat der griechische Philosoph Aristoteles beispielsweise vorgeschlagen, dass Paare, die einen Sohn bekommen wollen, während des kühlen und trockenen Nordwindes, und Paare, die ein Mädchen bekommen wollen, während des warmen und feuchten Südwindes miteinander schlafen sollten. Der uralte Traum, das Geschlecht unserer Kinder vorherbestimmen zu können, ist inzwischen wahr geworden. Dank einer neuen Technologie können es sich Paare jetzt tatsächlich selbst aussuchen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen haben wollen. Um sich den Wunsch nach einem Kind ihrer Wahl zu erfüllen, müssen sie lediglich in eine Klinik für Fortpflanzungsmedizin gehen und die für die Befruchtung vorgesehenen Samenzellen filtern lassen. Wer eine Tochter möchte, lässt sich mit den Spermien befruchten, die ein X-Chromosom enthalten, und wer einen Sohn möchte, lässt sich mit den Spermien befruchten, die ein Y-Chromosom enthalten. Die Kosten dieses Verfahrens, das bislang nur in den USA zugelassen ist, belaufen sich auf umgerechnet etwa 2000 Euro.

    In Deutschland sind Politiker, Philosophen und Sozialwissenschaftler besorgt, dass die neue Technologie zu einer drastischen Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen und in Zukunft weitaus mehr Jungen als Mädchen geboren werden könnten. Um herauszufinden, ob diese Befürchtung begründet ist, hat eine Arbeitsgruppe des Fachbereichs Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen vom Zentrum für Dermatologie und Andrologie und der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie eine FORSA-Umfrage in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse der von Dr. Edgar Dahl, Prof. Dr. Manfred Beutel, Dr. Burkhard Brosig und Prof. Dr. Klaus-Dieter Hinsch geleiteten Studie wurden jetzt in der Oktober-Ausgabe der renommierten Zeitschrift "Human Reproduction" veröffentlicht.

    "Damit es zu einem Ungleichgewicht des Geschlechterverhältnisses kommen kann", erklären die Forscher, "müssten mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens, müsste es eine statistisch signifikante Präferenz für Kinder eines ganz bestimmten Geschlechts geben, und zweitens müsste ein entsprechend hohes Interesse an der Nutzung der Technologie zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl bestehen." Um zu prüfen, ob diese beiden Bedingungen tatsächlich erfüllt sind, haben sie 1094 Männer und Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren befragt. Wie sich zeigte, haben die Deutschen keine Vorliebe für Kinder eines bestimmten Geschlechts. Auf die Frage "Wenn Sie es sich aussuchen könnten, hätten Sie dann lieber ausschließlich Jungen, ausschließlich Mädchen, mehr Jungen als Mädchen, mehr Mädchen als Jungen, genauso viele Jungen wie Mädchen oder wäre Ihnen das Geschlecht Ihrer Kinder gleich?", antworteten 30 Prozent, dass sie gerne genauso viele Jungen wie Mädchen hätten; 58 Prozent der Befragten wäre das Geschlecht ihrer Kinder vollkommen egal; 4 Prozent hätten gerne mehr Jungen als Mädchen, 3 Prozent mehr Mädchen als Jungen, 1 Prozent ausschließlich Mädchen und 1 Prozent ausschließlich Jungen.

    Auf die Frage, ob sie bereit wären, in ein Zentrum für Reproduktionsmedizin zu gehen und 2000 Euro für eine Geschlechtswahl zu bezahlen, antworteten 6 Prozent, dass sie sich das vorstellen könnten. 92 Prozent der Befragten sagten jedoch, dass dies für sie auf keinen Fall in Frage käme. Um herauszufinden, ob es lediglich die mit der Technologie verbundenen Kosten und Mühen sind, die sie von der Nutzung der Geschlechtswahl abhalten, sind die 92 Prozent, die mit "nein" geantwortet hatten, anschließend gefragt worden, ob sie von der neuen Technologie Gebrauch machen würden, wenn sie in jeder ärztlichen Praxis durchgeführt werden könnte und von der Krankenkasse bezahlt werden würde. Für 94 Prozent der Befragten wäre eine Geschlechtswahl auch unter diesen Umständen ausgeschlossen.

    Selbst wenn es ein Medikament zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl gäbe und Paare vor dem Geschlechtsverkehr lediglich eine "rosa Pille" einnehmen müssten, um ein Mädchen zu bekommen, oder eine "blaue Pille" einnehmen müssten, um einen Jungen zu bekommen, würden nur acht Prozent davon Gebrauch machen wollen.

    Wie die Gießener Arbeitsgruppe versichert, decken sich ihre Ergebnisse mit den Erfahrungen so genannter "Gender Clinics". Weltweit gibt es derzeit etwa 65 Kliniken, die Paaren eine vorgeburtliche Geschlechtswahl anbieten. Allein in Großbritannien gibt es drei solcher Kliniken - in London, Birmingham und Glasgow. Offenbar ist es jedoch alles andere als ein florierendes Geschäft. Zusammengenommen behandeln diese drei Zentren jedes Jahr nur etwa 150 Paare. Ihre Klientel ist dabei nahezu ausnahmslos auf Paare beschränkt, die schon mehrere Kinder haben: "Mehr als 95 Prozent ihrer Patienten sind Paare, die bereits zwei oder drei Kinder desselben Geschlechts haben und sich sehnlichst ein Kind des jeweils anderen Geschlechts wünschen. Sie wählen Jungen, wenn sie bereits mehrere Mädchen haben, und Mädchen, wenn sie bereits mehrere Jungen haben."

    Auf der Grundlage ihrer repräsentativen Umfrage und aus den Erfahrungen der Gender Clinics schließen die Gießener Forscher, dass ein freier Zugang zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl - zumindest in einem Land wie Deutschland - kaum zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen würde. Auf die moralischen und rechtlichen Implikationen ihrer Untersuchung angesprochen, sagt das Forscherteam: "Unsere Untersuchungsergebnisse sagen nichts darüber aus, ob die vorgeburtliche Geschlechtswahl gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollte. Sie entkräften lediglich den häufig vorgebrachten Einwand, dass eine Zulassung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl zu einer dramatischen Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen würde. Eine mögliche Störung des natürlichen Gleichgewichts der Geschlechter ist jedoch nur einer von vielen Einwänden gegen die vorgeburtliche Geschlechtswahl. Andere Bedenken beziehen sich darauf, dass sie einen Missbrauch limitierter medizinischer Ressourcen darstelle, eine Stereotypisierung der Geschlechter befördere und einem gefährlichen Trend zur Zeugung von "Designer-Babys" Vorschub leiste. All diese Bedenken müssen bei der Frage, ob die vorgeburtliche Geschlechtswahl gesetzlich zugelassen oder verboten werden soll, berücksichtigt werden. Wir hoffen sehr, dass wir mit unserer Untersuchung einen kleinen, aber nicht unerheblichen Teil zur Klärung dieser Frage beigetragen haben."

    Dass so erstaunlich wenige Menschen in Deutschland ein Interesse daran haben, sich das Geschlecht ihrer Kinder auswählen zu können, hat offenbar einen ganz einfachen Grund. Wie die Gießener Forscher aus einer zweiten, bislang noch unveröffentlichten Umfrage wissen, sind rund 85 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass Kinder um ihrer selbst willen geliebt werden sollen und nicht wegen irgendwelcher Eigenschaften wie Schönheit, Intelligenz oder Geschlecht.

    Kontaktadressen:

    Dr. phil. Edgar Dahl, Zentrum für Dermatologie und Andrologie, Tel.: 0641/99-42218, Email: Edgar.Dahl@derma.med.uni-giessen.de;

    Prof. Dr. med. Manfred Beutel, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tel.: 0641/99-45660, Email: Manfred.Beutel@psycho.med.uni-giessen.de;

    Dr. med. Burkhard Brosig, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Tel.: 0641/99-45633, Email: Burkhard.Brosig@psycho.med.uni-giessen.de;

    Prof. Dr. med. Klaus-Dieter Hinsch, Zentrum für Dermatologie und Andrologie, Tel.: 0641/99-43361, Email: Klaus-Dieter.Hinsch@derma.med.uni-giessen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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