Oliver Schmidt (Hrsg.): Die neuen Kommandohöhen - Untersuchungen über Globalisierung und Politik, Berlin, 2003
Globalisierung ist ein "Mega-Trend". Der Anfang der 1990er Jahre aufgekommene Begriff hat in der letzten Dekade des ausgelaufenen Jahrhunderts eine annähernd explosionsartige Zunahme verzeichnet, und seit einigen Jahren hat er nun auch seine eigene gesellschaftliche Bewegung: Die Globalisierungskritiker von Attac und anderen Nichtregierungsorganisationen (sie nennen sich selbst die Zivilgesellschaft) attackieren die "neoliberale" Globalisierung. Stoppt die Profitgier, kontrolliert den Markt, macht diese Welt nicht zur Ware und eine andere, bessere, gerechtere möglich. Das sind im Kern die Schlagworte der Globalisierungskritiker. Sie haben Widerhall gefunden, in der Politik wie in den (Sozial)Wissenschaften, die sich mit diesen Thesen und ihren Hintergründen auseinandersetzen müssen.
Die vorliegende Aufsatzsammlung will dazu einen Beitrag leisten. Sie vereint dreizehn Autorinnen aus der Politik (4), aus der globalisierungskritischen Bewegung (3) und aus der Wissenschaft (3), sowie einige Nachwuchsautoren (3), die als Querschnitt zu diesen Kategorien gelten dürfen.
Die dreizehn Aufsätze sind eine Art Parforce-Ritt durch die Nöte und Hoffnungen der Globa-lisierung: Politik im multilateralen Geflecht, Sozialstaat bei offenen (Kapital)Märkten, Dienstleistungshandel und öffentliche Daseinsvorsorge, Wissensgesellschaft, Entwicklungsperspek-tiven und natürlich die amerikanische Sicherheitspolitik seit dem 11. September. Wie jedes Buch über die Globalisierung droht die Breite zulasten der Tiefe zu gehen, doch diese Klippe wird hier gelungen umschifft. Gewiss, zu jedem der Themen ließe sich mehr sagen, schärfer analysieren, genauer modellieren. Doch diese Auswahl ist ein fairer und fundierter Einstieg, und sie bietet, neben zahlreichen graphisch aufbereiteten, aktuellen Daten, vielfältige Hinwei-sen zum Weiterlesen: Neueste Literatur wie die jüngste UNDP-Studie oder die neue Aufsatzsammlung von Jagdish Bhagwati findet sich hier ebenso wie wertvolle "Standardwerke", sei es der Bericht der Enquete-Kommission, das Stiglitz-Buch oder Erhard Epplers "Privatisierte Gewalt". Daneben, das darf heutzutage nicht fehlen, viele nützliche Internet-Links. Als Einstieg in die aktuelle Globalisierungsdebatte, mit Ausblicken auf die (sozial)wissenschaftliche ebenso wie die politischen Argumentationen und Ansätze ist es gerade für den interessierten Laien gut geeignet.
Während vor allem die Wirtschaftswissenschaften dazu neigen, die Globalisierung als "gegeben, und das ist auch gut so" anzusehen, steht in den anderen Sozialwissenschaften die Frage nach der politischen Steuerung im Mittelpunkt des Interesses. "Globalisierung politisch gestalten" schrieb Johannes Rau denn auch der Politik ins Stammbuch, damit sie "Chance, nicht Schicksal" sei. Ein Auszug aus der Berliner Rede des Bundespräsidenten ist der Aufsatzsammlung vorangestellt, gleichsam als Ausgangspunkt. Politische Gestaltung fordert Verwal-tungshandeln, sei es in der Information der Bürgern und Bürgerinnen, im Umgang mit den Globalisierungskritikern und, vor allem, bei der Umsetzung von Gestaltungszielen. Dies wird unter dem Begriff "global governance" im ersten Teil diskutiert, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Demokratie. Macht sei zu politischem Einfluss geronnen, analysiert Hans Dembowksi die neuen Handlungszusammenhänge für Regierungen. Carl Böhret betont das Wechselspiel zwischen globalen Vernetzungen und lokalen Identitäten, welches in der Poli-tikwissenschaft unter dem Begriff "Glokalisierung" untersucht wird. Ernst Ulrich von Weizsäcker schließlich fordert ein neues demokratisches Gleichgewicht, in dem die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen soll.
Freilich bleiben die "neuen Kommandohöhen" noch im Nebel. Gewiss, die derzeitige WTO-Handelsordnung ist unbefriedigend, die US-Sicherheitsdoktrin, die militärische Vormacht und freie Märkte normativ verquickt, ist wohl kaum zu rechtfertigen, und die Macht der Multis wie das Agieren von Handelsbeauftragten muss endlich demokratisch legitimiert werden. Doch wie, da bleiben die Autor(inn)en vorsichtig und unscharf. Global Governance sei doch noch "work in progress", stellt RLP-Sozialministerin Malu Dreyer fest. Eine Rückkehr zum alten keynesianischen Staatsverständnis scheidet aus, dass wird (mehr oder weniger) deutlich.
Man mag hierin die Schwäche dieses Bandes über die Globalisierung sehen, wo es doch schon so viele dazu gibt. Doch vorschnelle, allzu einfache Lösungen werden schnell Teil des Problems. Dass auch der Markt als Ordnungskraft an seine Grenzen stößt, dieser Erkenntnis kann sich kaum ein politisch denkender Mensch entziehen. Wo aber, nach dem Scheitern des ersten "Kampfes um die Kommandohöhen der Wirtschaft" an dem, was Oliver Schmidt das "Hayek-Problem" nennt (nach dem Nobelpreisträger Friedrich v. Hayek, der die "Anmaßung von Wissen" für das Scheitern des Keynesianismus verantwortlich machte), die neuen Pfeiler der Ordnung errichtet werden sollen, das ist eben noch offen. Ein ebenso sympathischer wie notwendiger Suchprozess. Die Stärke dieser Aufsatzsammlung liegt einerseits darin, die richtigen und wichtigen Fragen aufzuwerfen, und andererseits in der Breite ihrer Autoren, die von dem liberalen Dieter Duwendag über Ernst Ulrich von Weizsäcker und Carl Böhret zur RlP-Sozialministerin Malu Dreyer und schließlich dem Öko-Sozialisten Eckhardt Stratmann-Mertens reichen. Die Aufsätze liefern abgewogene, flüssig geschriebene Analysen und sind ein hervorragende Überblick über die aktuelle Diskussion und den Stand der empirischen Forschung. Die Beiträge sind untereinander durchaus kontrovers und zugleich mit umfangreichen Informationen gespickt. "Die neuen Kommandohöhen" bleiben ein abzusteckendes Territorium, und diese Sammlung von fundierten Aufsätzen ist dazu ein guter Startpunkt.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Politik, Recht
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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