SFB 1182-Forschungsteam schlägt in einer neuen Hypothese vor, dass Entzündungskrankheiten durch ein Nahrungsüberangebot und die damit verbundene Störung der natürlichen Bakterienbesiedlung des Darms verursacht werden
Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs haben sich in den heutigen Industrienationen mit dem wachsenden Wohlstand und den damit verbundenen Änderungen der Lebensgewohnheiten zahlreiche neue und zivilisationsbedingte Krankheitsbilder entwickelt. Man spricht von sogenannten „Umwelterkrankungen“, beispielsweise verschiedene Darmentzündungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Gemeinsame Ursachen liegen unter anderem in Störungen des menschlichen Mikrobioms, also der natürlichen mikrobiellen Besiedlung des Körpers, insbesondere des Darms. Bisher erklärten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese gestörte Zusammenarbeit von Körper und Mikroben mit verschiedenen Hypothesen: Sie besagten zum Beispiel, dass übertriebene Hygiene, die intensive Antibiotikanutzung oder bestimmte genetische Faktoren das Mikrobiom dauerhaft stören und den Menschen so anfällig für Krankheiten machen. Diese Erklärungsansätze sind bislang allerdings unvollständig. Ein Team des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat nun eine neue und umfassendere, ökologisch-evolutionäre Theorie zur Entstehung von Umwelterkrankungen formuliert. Die Kieler Forscher schlagen vor, dass ein unnatürliches und besonders umfangreiches Nährstoffangebot Bakterien von ihrem Wirtslebewesen entkoppelt und so die feinjustierte Balance des Mikrobioms zerstört. Die gewissermaßen überfütterten Bakterien im Darm begünstigen so die Krankheitsentstehung. Diesen fundamentalen neuen Ansatz zur vollständigeren Erklärung von Umwelterkrankungen veröffentlichten die Kieler Wissenschaftler gestern in der Fachzeitschrift mBio.
Der Ursprung liegt im Meer
Den Ausgangspunkt für das Kieler Forschungsteam bildete die Ökologie von Meereslebensräumen: Die Erforschung des Korallen- und Algensterbens und der damit verbundenen Auswirkungen auf wichtige Ökosysteme im Meer deutet neben anderen Faktoren wie dem Klimawandel oder der Überfischung auch auf die Nährstoffverhältnisse im Meereswasser als Ursache des Problems hin. Sobald sich darin aufgrund menschlicher Einflüsse ein zu großes Nahrungsangebot befindet, beginnen die mit den Korallen vergemeinschafteten Bakterien, sich von ihren Wirten zu entkoppeln. Sie ernähren sich dann nicht mehr von Stoffwechselprodukten des Wirtes, sondern bevorzugen das reichere Nährstoffangebot des umgebenden Wassers. Die Balance des Korallen-Mikrobioms gerät wegen der Abwanderung ihrer symbiotischen Partner durcheinander und Krankheiten entstehen in der Folge. „In diesem Zusammenhang zwischen der Nährstoffverfügbarkeit und der Balance der Wirts-Bakterien-Beziehungen sehen wir ein universelles Prinzip, das weit über das sehr spezielle Beispiel der Korallen hinausgeht“, erklärt Dr. Tim Lachnit, wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 1182 und Erstautor der Studie. „In Untersuchungen an unserem Modellorganismus, dem Süßwasserpolypen Hydra, konnten wird diesen Zusammenhang experimentell bestätigen“, so Lachnit weiter. Auch das kleine Nesseltier zeigte deutliche Krankheitsanzeichen, sobald seine normale Nährstoffaufnahme gestört wurde und stattdessen ein Nahrungsüberangebot zur Verfügung stand.
Was haben Korallen und Nesseltiere mit dem Menschen zu tun?
Die im Experiment gewonnenen Erkenntnisse lassen sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf die menschliche Gesundheit übertragen. Ähnlich wie im Meerwasser oder der einfachen Körperhöhle eines Süßwasserpolypen, die sich im Laufe der Evolution von ihrer äußeren Umgebung und einer direkten Nahrungszufuhr entkoppelte, ändert sich auch im menschlichen Darm das Nährstoffangebot mit den zivilisatorisch geänderten Ernährungsgewohnheiten - hin zu einer unausgewogenen, energiereichen und ballaststoffarmen Ernährungsweise. Neben direkten Gesundheitsbeeinträchtigungen bewirkt eine dauerhaft hohe, zugleich einfach zu verwertende Zufuhr an Nährstoffen, dass nicht nur der menschliche Stoffwechsel sie nutzt, sondern auch die Bakterienbesiedlung des Darms gewissermaßen „mitgefüttert“ wird. Die Mikroben wechseln von den Metaboliten des Wirtes als Nahrungsgrundlage hin zu überreich verfügbaren Nährstoffen aus der menschlichen Nahrung und entkoppeln sich so von den Wechselwirkungen mit dem Wirtsorganismus. „Diese Überfütterung der Bakterien fördert ihr Wachstum insgesamt, dazu vermehren sich bestimmte Bakterienarten zu Ungunsten anderer Mitglieder des Mikrobioms verstärkt und unkontrolliert“, betont Professor Thomas Bosch, Sprecher des SFB 1182. „So verändern sich mit der Zusammensetzung der Bakterienbesiedlung auch die Interaktionen zwischen Bakterien und Wirtsorganismus und eine schwerwiegende Störung, die Dysbiose, tritt ein“, erklärt Dr. Peter Deines, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kieler Metaorganismus-Sonderforschungsbereich.
Weitere zivilisationsbedingte Faktoren verstärken diese fehlende Balance des Mikrobioms. Der Wegfall periodischen Fastens als Folge nicht immer verfügbarer Nahrungsquellen, das nur noch sehr seltene Auftreten von Durchfallerkrankungen und der daran geknüpfte episodische Verlust der Bakterienbesiedlung des Darms oder eine ernährungsbedingte Verarmung der mikrobiellen Vielfalt im Darm sind nur einige Beispiele. Die beiden ersten stellen sehr ursprüngliche Mechanismen dar, die dem Mikrobiom früh in der Menschheitsentwicklung und bis hinein in die vorindustrielle Zeit Gelegenheit gaben, sich in gewissen Abständen auf einem Normalzustand einzupendeln und damit eine gesunde und natürliche Zusammensetzung wiederzugewinnen.
Heilt sich das Mikrobiom möglicherweise selbst?
Die von den Forschenden des Kieler SFB 1182 in enger Zusammenarbeit mit dem CAU-Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ vorgeschlagene „Überfütterungs-Hypothese“ bietet wertvolle Ansätze für weiterführende Forschungsarbeiten bis hin zur potenziellen Übertragung in künftige Therapien: Bislang suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insbesondere nach Möglichkeiten, ein gestörtes Mikrobiom durch äußere Eingriffe wie zum Beispiel Probiotika, also die Gabe bestimmter hilfreicher Bakterienarten, oder auch Stuhltransplantationen zu behandeln und wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die ökologisch-evolutionäre Perspektive fügt nun eine weitere Dimension hinzu. Stärker als bisher bezieht sie die natürliche Fähigkeit des Mikrobioms ein, sich selbst neu zu justieren und eine gesunde Zusammensetzung wiederherzustellen. Künftige Forschungsansätze liegen daher in den konkreten Mechanismen, die das Mikrobiom ausbalancieren, und in der Frage, ob sich das „Überfüttern“ der Bakterien eventuell über geänderte Ernährungsgewohnheiten reduzieren lässt. „Eine interessante Frage wird sein, ob die evolutionär ursprünglichen Abläufe, die für die Balance des Mikrobioms sorgen, auch ein therapeutisches Potenzial besitzen“, so Lachnit. „Künftig werden wir uns zum Beispiel neben den bekannten gesundheitsfördernden Effekten des Fastens auch mit seinen Auswirkungen auf Zusammensetzung und Funktion des Mikrobioms und damit den Verlauf von Entzündungskrankheiten beschäftigen“, so Lachnit weiter.
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Bildunterschrift: Das Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra zeigt, dass eine Überfütterung des Mikrobioms möglichweise zur Krankheitsentstehung beiträgt.
© Kiel Life Science
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Bildunterschrift: Dr. Tim Lachnit (links) und Dr. Peter Deines vom SFB 1182 untersuchten den Zusammenhang von Nährstoffverfügbarkeit und der Balance der Wirts-Bakterien-Beziehungen. © Christian Urban, Uni Kiel
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Prof. Thomas Bosch
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Dr. Peter Deines
Zoologisches Institut, CAU Kiel
Tel.: 0431-880-4171
E-Mail: pdeines@zoologie.uni-kiel.de
Tim Lachnit, Thomas CG Bosch & Peter Deines (2019): Exposure of the host-associated microbiome to nutrient-rich conditions may lead to dysbiosis and disease development – an evolutionary perspective. mBio Published on May 14, 2019
https://doi.org/10.1128/mBio.00355-19
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Dr. Tim Lachnit (links) und Dr. Peter Deines vom SFB 1182 untersuchten den Zusammenhang von Nährstof ...
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Umwelt / Ökologie
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch
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