Gesellschaft, Medien und Erziehungsratgeber diskutieren immer wieder von neuem, ob und in welchem Maße das Kind im Zentrum der Familie stehen sollte. Werden Kinder Tyrannen? Ist die Bindung zu ihren Eltern nicht stark genug? Ist mehr Autorität nötig, oder weniger? Im Kern solcher oft emotional geführten Debatten stehen meist eigengesetzliche Machtdynamiken rund um das Kind. Darauf macht die Soziologin Dr. Désirée Waterstradt anlässlich der geplanten Ausstrahlung des Dokumentarfilms „Elternschule“ am 3. Juli um 22.45 Uhr in der ARD aufmerksam.
„Konkurrenzdynamiken rund ums Kind können nicht nur in Familien eskalieren, sondern auch zwischen Experten und Institutionen“, erklärt Dr. Waterstradt, Assoziiertes Mitglied des Instituts für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Mit dem Wettbewerb ums Kind habe sich ein stabiler, eigendynamischer Konkurrenzmechanismus entwickelt, ähnlich der Situation in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Erstmals beschrieben worden seien solche Machtdynamiken vor mehr als 80 Jahren durch den Soziologen Norbert Elias in seiner Studie zur Entwicklung der Königsposition in der Höfischen Gesellschaft – genannt Königsmechanismus oder Mechanismus der Vormachtstellung: Wie von selbst führen Konkurrenzdynamiken von einer Konstellation freier Konkurrenz zur Zentralisierung der Verfügungsgewalt.
Soziologie der Elternschaft legt Machtaspekte offen
Die Ausbildung eines speziellen Konkurrenzmechanismus ums Kind – genannt „Kindchenmechanismus“ – hat Dr. Waterstradt bereits 2015 in ihrer Studie „Prozess-Soziologie der Elternschaft: Nationsbildung, Figurationsideale und generative Machtarchitektur in Deutschland“ deutlich gemacht. Hier legt sie dar, dass die zwingende Eigendynamik von Machtprozessen am Beispiel der Kindzentrierung besonders deutlich wird. Erst durch die Konkurrenz von Erwachseneninteressen entstehe die relativ stabile Zentralposition des Kindes – quasi von selbst und ohne Zutun des Kindes.
„Hier zeigt sich erstmals die vollständige Eigendynamik dieses Mechanismus der Vormachtstellung. Während Könige ja immer auf irgendeine Weise bewusst auf ihre Position hingearbeitet haben, ist das bei Kindern auszuschließen. Besonders deutlich wird es bei einem Säugling, der alle auf Trab hält und aber nichts anderes macht, als alle anderen Säuglinge vor ihm in der Menschheitsgeschichte. Bildlich gesprochen: Ein Wirbelsturm entsteht auch nicht im Auge des Sturms, sondern durch die Thermik der Umgebung “, so Dr. Waterstradt.
Da Kinder entwicklungspsychologisch aber noch nicht die gleichen Fähigkeiten wie Erwachsene hätten, könnten sie eine Zentralposition auch kaum angemessen ausfüllen und seien den damit einhergehenden psychischen Belastungen weniger gewachsen als erwachsene Führungspersonen. Im Zentrum des Mechanismus stünden zudem nicht reale individuelle Kinder, sondern das abstrakte Symbol „Kind“. Es diene als wichtige Kategorie sozialer Ordnung und höchster moralischer Integrität mit besonderem Emotionalisierungs-, Anklage und Aktivierungspotenzial. Das Symbol „Kind“ gelte als Macht der Unschuld und diene Erwachsenen dazu, sich selbst moralisch zu profilieren, Anerkennung zu gewinnen und gegebenenfalls Außenseiter moralisch abzuwerten.
Kindzentrierung als machttheoretischer Schlüsselbegriff
Der Begriff Kindzentrierung ist für Dr. Waterstradt ein machttheoretischer Schlüsselbegriff, der auf eine zentrale Position des Kindes hinweist. Schon in der Antike sei die Figur des göttlichen Kindes kultisch-religiös überhöht worden. Doch erst mit der Entwicklung von Nationalstaaten sei in westlichen Gesellschaften eine neuartige Konkurrenzarena entstanden: das nationale Interesse am Kind. „Es entwickelten sich professionelle Privilegien und institutionelle Strukturen wie beispielsweise Schulen, Kindergärten, Jugendämter oder Familiengerichte. Die Lebensphase der Kindheit wurde mit Vorrechten ausgestattet. Zudem wurden Zuständigkeiten rund ums Kind geordnet und erneut vergeschlechtlicht“, so Dr. Waterstradt. Und weiter: „Zentrale Merkmale der Kindzentrierung sind die expertengeleitete Erziehung, die Professionalisierung, Institutionalisierung und Ökonomisierung rund ums Kind, die kindzentrierte Familie, der Vorrang von Kinderschutz und Kindeswohl sowie eine Teilidentität kindzentrierter Fürsorge beim Übergang zur Elternschaft für Frauen.“
Für das Booklet der DVD „Elternschule“ hat Dr. Désirée Waterstradt „Eine kurze Geschichte der Kindzentrierung“ geschrieben. Nachzulesen ist sie auch auf http://www.ph-karlsruhe.de/fileadmin/user_upload/fakultaet2/sozwiss/soziologie/d....
Einen Beitrag über „Westliche (Unternehmens-)Familienmodelle im historischen Wandel. Eine prozesssoziologische Skizze“ von Dr. Waterstradt ist zu finden in: Soziologie der Unternehmerfamilie. Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven. Hrsg. v. Heiko Kleve und Tobias Köllner, Wiesbaden 2019.
Zur Person
Dr. Désirée Waterstradt ist Unternehmensberaterin für strategische Kommunikation. Seit 2015 ist sie Assoziiertes Mitglied des Instituts für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und engagiert sich in der Erforschung von Elternschaft. Ihre Forschungsergebnisse vermittelt sie in Seminaren, Vorträgen und Workshops – an Hochschulen, Weiterbildungsinstituten und pädagogischen Einrichtungen.
http://www.ph-karlsruhe.de/de/institute/ph/institutfrsozialwissenschafte/soziolo...
Interview mit Dr. Désirée Waterstradt:
Jenseits gefühlter Wahrheiten
Machtbalancen rund um Familien im Blick behalten
Dr. Désirée Waterstradt vom Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe erläutert, wie es zur Kindzentrierung kam, wie wichtig Machtbalancen sind und wie Ratgeber Eltern unter Druck setzen.
Was bedeutet Kindzentrierung konkret und welche Probleme bringt sie mit sich?
Dr. Waterstradt: „Es geht darum, dass im Miteinander der Generationen Rechte, Bedürfnisse, Wohl und Schutz von Kindern im Zentrum stehen – etwa in Jugendamt, Kinderarztpraxis, Kita, Scheidungsprozess, Familie oder Erziehung. Die Berücksichtigung von Kindern ist historisch ein wichtiger Fortschritt. Aber auch hier kommt es auf die Balance an. Denn durch den Hyperfokus auf abstrakte Kindesideale geraten konkrete Kinder und auch andere Menschen oftmals aus dem Blick – ob Eltern, Nachbarn, Lehrerinnen oder Erzieher. Das sieht man beispielsweise bei Missbrauchsfällen pädagogischer Einrichtungen, wo angesichts der allgemeinen Fokussierung auf Kinder das Leid konkreter Kinder lange undenkbar schien. Es zeigt sich aber auch in den Machtbalancen innerhalb der Familie – wenn die Bedürfnisse von Kindern im Zentrum stehen, bleiben Mütter, aber auch Väter schnell auf der Strecke.“
Aber das trifft bestimmt nur auf wenige Eltern zu, oder?
„Im Gegenteil: Es ist die ganze Gesellschaft, die die Spielregeln und Zuständigkeiten rund ums Kind verhandelt und vorgibt – für Mütter, Väter, Geschwister, Erzieher, Lehrer, Kinderärzte und alle anderen. Ein Blick in die westliche Geschichte zeigt, wie sehr sich gesellschaftliche Werte und Normen, aber auch Strukturen, Verhalten und Empfinden verändert haben. Trotzdem gilt Familie bis heute als unveränderlich, ewig und vor allem als heilig. Deshalb werden viele alltägliche Phänomene tabuisiert, zum Beispiel Machtdynamiken, wirtschaftliche Gewalt oder familiale Entfremdung. Besonders auffallend ist, dass der fundamentale Wandel von der vaterzentrierten zur kindzentrierten Familienstruktur kaum diskutiert wird, obwohl das für traditionell patriarchale Gesellschaftsstrukturen höchst aufschlussreich ist.“
War die Kindzentrierung nicht eine Befreiung für Mütter und Kinder?
„Die Schutzherrschaft über Mutter und Kinder, die der Vater als Autorität verkörperte, ging an den Nationalstaat mit seinem Wächteramt über. In den 1970er Jahren ging die elterliche Gewalt schließlich im staatlichen Gewaltmonopol auf, wurde zur elterlichen Sorge und das Kind löste den Vater als Zentrum der Familie ab. Das ist eine fundamentale Veränderung, die bis heute kaum thematisiert wird – interessanterweise fällt sie vor allem den Menschen auf, die nicht aus westlichen Gesellschaften kommen. Hierzulande wird der Wandel oftmals als Ergebnis weiblicher Emanzipation gedeutet. Doch das ist wenig überzeugend, wenn Frauen mit der Elternschaft bis heute auf finanzielle Eigenständigkeit, Berufskarriere, gesellschaftliche Anerkennung und volle Rentenansprüche verzichten und in der Erziehung zudem hochgradig verunsichert sind. Bis heute ist unklar, was eine emanzipierte Mutter ist und wie eine männliche Fürsorge-Identität jenseits der Ernährerrolle aussieht. Mehr noch: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, Flexibilisierung und die schwindende Stärke der Nationalstaaten setzen Eltern erheblich unter Druck und scheinen eine Retraditionalisierung von Strukturen und Familienmodellen zu begünstigen.“
Woran lässt sich festmachen, ob eine Familie kindzentriert ist?
„Es gibt formale Merkmale, die seit den 1970er Jahren zunehmend beobachtet werden: Geheiratet wird erst, wenn ein Kind geplant ist – oder heute auch gar nicht mehr. Emotional steht nicht mehr die Partnerebene, sondern die Beziehung zum Kind im Zentrum. Die Elterninteressen stehen nun hinter den Kinderinteressen zurück. Der Erziehungsstil ist nicht mehr elternzentriert, sondern kindzentriert. Neuerdings gehört dazu sicherlich auch die zunehmende Akzeptanz von unterschiedlichsten Familienformen: Ob unverheiratete Eltern, Regenbogenfamilie, alleinerziehend oder Solo-Mutterschaft, es gilt die Devise: Familie ist, wo Kinder sind. All die Merkmale machen auch klar, es ist der gesellschaftliche Wandel der Familien verändert – nicht umgekehrt.“
Was, wenn Eltern nicht weiterwissen? Sind Elternratgeber hilfreich?
„Studien zeigen, dass Elternratgeber in ihren Aussagen sehr widersprüchlich sind. Die Ratschläge ändern sich zudem mit der Zeit, denn sie bilden die sich verändernden Werte, Normen und Anforderungen ab. Es kommen ja immer neue Verantwortungsbereiche hinzu – ob Smartphonenutzung, Allergien oder Internetsicherheit. Das garantiert erfolgreiche Rezeptwissen, auf das viele oftmals hoffen, scheint es bislang also nicht zu geben. Ratgeber bieten sicherlich Ideen, Hoffnung, Unterhaltung und die Erleichterung, dass andere die gleichen Probleme haben. Neben wissenschaftlichen Studien weisen die unzähligen Selbsterfahrungsbücher von Müttern – und immer mehr Vätern – allerdings auf einen anderen Aspekt hin: Elternbelehrung und widersprüchliche Ratschläge tragen nicht sehr weit, sondern setzen Eltern immer weiter unter Druck, weshalb fundiertes Wissen händeringend gesucht wird. Doch zum Thema Elternschaft hat die Wissenschaft leider noch wenig bieten – es gibt keine Geschichte, Entwicklungspsychologie oder Soziologie der Elternschaft. Solange solches Grundlagenwissen fehlt, sind familienbezogene Berufe aber auch Eltern auf gefühltes Wissen angewiesen.“
Über die Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Als bildungswissenschaftliche Hochschule mit Promotions- und Habilitationsrecht forscht und lehrt die Pädagogische Hochschule Karlsruhe zu schulischen und außerschulischen Bildungsprozessen. Ihr unverwechselbares Profil prägen der Fokus auf MINT, mehrsprachliche Bildung und Heterogenität sowie eine aktive Lehr-Lern-Kultur. Das Studienangebot umfasst Lehramtsstudiengänge für Grundschule und Sekundarstufe I, Bachelor- und Masterstudiengänge für andere Bildungsfelder sowie professionelle Weiterbildungsangebote. Rund 180 in der Wissenschaft Tätige betreuen rund 3.600 Studierende. Weitere Infos auf http://www.ph-karlsruhe.de
Dr. Désirée Waterstradt, Assoziiertes Mitglied des Instituts für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe; waterstradt@ph-karlsruhe.de
Dr. Désirée Waterstradt
Foto: privat
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
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