Mittelalter-Spezialisten aus Deutschland und Österreich haben in der Stiftsbibliothek Melk einen spektakulären Fund gemacht. Sie sind auf einen schmalen, auf den ersten Blick unscheinbaren Streifen Pergament gestoßen, der es aber bei genauerer Untersuchung in sich hat. Erkennbar sind nur wenige Buchstaben pro Zeile, die in mühsamer Geduldsarbeit identifiziert wurden. Sie stammen aus einem Text, den man bislang nur in zwei deutlich jüngeren Abschriften kannte.
Der sogenannte ›Rosendorn‹ berichtet davon, wie sich eine Jungfrau mit ihrer sprechenden Vulva darüber entzweit, wer von ihnen bei Männern den Vorzug genieße. Bislang hat man angenommen, dass ein solch freier Umgang mit der eigenen Sexualität im deutschsprachigen Raum erst zum Ende des Mittelalters aufgekommen ist, also etwa in der städtischen Kultur des 15. Jahrhunderts. Der Melker Fund dagegen wurde um 1300 geschrieben und revidiert damit die bisherige Forschung. Anzunehmen ist, dass es bereits 200 Jahre zuvor Anlässe gab, bei denen derart freizügige Texte gedichtet, vorgetragen und vielleicht sogar inszeniert wurden. Offenbar wurden sie selten aufgeschrieben und haben noch seltener die Jahrhunderte bis heute überdauert.
Das Melker Fragment stammt aus einem vormals vermutlich vollständigen Blatt, das zerschnitten wurde und als Falzstreifen für den Einband eines lateinischen Werks diente. Dies war die gängige Methode, um wertvolles Pergament wieder zu verwerten. Aus welchen Gründen der ›Rosendorn‹ zerschnitten wurde, kann man nur erahnen. Zu denken gibt, dass das Fragment in einem Melker Klosterband gefunden wurde – hat man im Kloster ein so verderbliches Buch schlichtweg vernichten müssen?
Entdeckt hat das Fragment Dr. Christine Glaßner (Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien), identifiziert wurde es von Dr. Nathanael Busch (Universität Siegen). Beschrieben wird es im Rahmen des Akademievorhabens ›Handschriftencensus‹ (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz), das an der Philipps-Universität Marburg angesiedelt ist.
Das Akademieprojekt ›Handschriftencensus‹ ist Teil des von Bund und Ländern geförderten Akademienprogramms, das der Erhaltung, Sicherung und Vergegenwärtigung unseres kulturellen Erbes dient. Koordiniert wird das Programm von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Das Akademienprogramm dient der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung unseres kulturellen Erbes. Es ist derzeit das größte geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm Deutschlands und ist international einzigartig. Seit 1979/80 wird es von Bund und Ländern gemeinsam finanziert. Etwa 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter forschen in insgesamt rund 140 Projekten mit rund 200 Arbeitsstellen. Mit den in den Forschungsstellen erarbeiteten Editionen, Wörterbüchern und Textcorpora schaffen die Akademien zentrale Wissensspeicher für die Zukunft, die Wissenschaft und Öffentlichkeit – zunehmend auch digital – zur Verfügung stehen.
Dr. Nathanael Busch (Projektleiter ›Handschriftencensus‹)
Universität Siegen, Hölderlinstraße 3, 57076 Siegen
busch@germanistik.uni-siegen.de
http://www.handschriftencensus.de/26081
https://twitter.com/HSCensus
Nathanael Busch bei der Identifikation des Fundes
Christine Glaßner, Wien
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Rückseite des Melker Falzes
Stift Melk
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
jedermann
Geschichte / Archäologie, Kulturwissenschaften, Sprache / Literatur
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse
Deutsch
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