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12.11.2003 10:44

Dramatische Unter- und Fehlversorgung bei Zwangserkrankten

Svenja Niescken Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

    Zwangserkrankungen galten lange Zeit als nicht behandelbar. In der Zwischenzeit konnte aber anhand zahlreicher Studien eindeutig belegt werden, dass zum Beispiel eine Verhaltenstherapie die Zwangssymptomatik auch langfristig deutlich bessert. Trotzdem dauert es 7 bis 10 Jahre, bis die Betroffenen zielführend behandelt werden. Schuld daran ist eine in Deutschland vorherrschende Unter- und Fehlversorgung der Zwangserkrankten.

    Ein Lied aus dem Radio, das uns unaufhörlich durch den Kopf geistert, ein genau festgelegter Ablauf vor dem Schlafengehen oder eine wiederholte Kontrolle der Wohnungstür: Alltagszwänge und -rituale sind bei Erwachsenen und Kindern ein ebenso verbreitetes wie unbedenkliches Phänomen, versichert Dr. med. Bernhard Osen, Oberarzt der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck (Prien am Chiemsee) und neuer erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. Zur Bewältigung von Unsicherheit scheinen Rituale und Zeremonien in Zeiten des Übergangs (z.B. bei der Einschulung oder Heirat) sowie großer emotionaler Belastung (z.B. durch den Tod einer nahestehenden Person) besonders wichtig und hilfreich zu sein. Wo aber hört die lieb gewonnene Gewohnheit und fängt eine behandlungsbedürftige Zwangserkrankung an?

    Von einer Störung sprechen Experten wie Dr. Osen dann, wenn die Marotte den normalen Tagesablauf erheblich beeinträchtigt und auch von den Betroffenen selbst als äußerst belastend empfunden werden. "Die Zwangserkrankten erkennen, dass ihre immer wiederkehrenden Gedanken und Handlungen im Prinzip unsinnig oder zumindest übertrieben sind - sie können sich aber nicht dagegen wehren. Sie fühlen sich somit in gewisser Weise verrückt bei klarem Verstand!"

    Untersuchungen zufolge müssen in Deutschland rund eine Millionen Menschen zwanghaft waschen, putzen, kontrollieren, sammeln, ordnen und zählen. In anderen Ländern stießen Forscher auf ähnlich hohe Zahlen: Sowohl in Finnland, Indien und Hongkong als auch in Ägypten, Uganda, der Türkei, Lateinamerika und den USA leiden jeweils 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung unter behandlungsbedürftigen Zwängen. Betroffen sind gleich viele Männer und Frauen quer durch alle sozialen Schichten. Die Zwangserkrankung zählt damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt.

    Noch in den 70 Jahren galt die Zwangserkrankung als nicht oder nur eingeschränkt behandelbar. In der Zwischenzeit steht aber fest, dass es durchaus erfolgsversprechende psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsstrategien gibt. "Allerdings", so Dr. Bernhard Osen weiter "sind bestimmte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie erforderlich: Jeder Betroffene benötigt eine maßgeschneiderte Behandlung, die auch mehrstündige Sitzungen und gegebenenfalls auch Hausbesuche einschließt."

    "Die vorhandene Unter- und Fehlversorgung in Deutschland beeinträchtigt nachweislich die Besserungschancen"

    Aber trotz nachgewiesener Therapieerfolge wird zur Zeit nur ein kleiner Prozentsatz der Betroffenen fachgerecht behandelt. Warum das so ist, ergänzt Prof. Hans Reinecker, Lehrstuhlinhaber für klinische Psychologie und Leiter der psychotherapeutischen Ambulanz der Universität Bamberg sowie Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

    "In Deutschland haben wir eine problematische Unter- und Fehlversorgung der Betroffenen. Es dauert rund 7 bis 10 Jahre, bis die Patientinnen und Patienten eine zielführende Behandlung erhalten. Diese Irrwege im Gesundheitssystem beeinträchtigen aber nachweislich die Besserungschancen."

    In zahlreichen Einzelstudien und Meta-Analysen wurde laut Prof. Reinecker eindeutig belegt, dass eine Verhaltenstherapie die Zwangssymptomatik auch langfristig deutlich bessert. Im Rahmen einer entsprechenden Untersuchung gaben 70 Prozent der befragten 600 Patienten nach einer stationären, verhaltenstherapeutischen Behandlung an, dass sich ihr Zustand gebessert habe. Nach 3 bis 8 Jahren stuften immerhin noch mehr als die Hälfte Ihren Zustand als "deutlich gebessert oder "gebessert" ein.

    "Für rund 8.500 Zwangspatienten steht gerade mal ein Therapeut zur Verfügung!"

    Die ermutigenden Zahlen werden jedoch durch ein äußerst düsteres Bild in der therapeutischen Praxis getrübt: Im Therapieantrag geben nahezu alle Verhaltenstherapeuten an, ihre Zwangspatienten mit Konfrontation und Reaktionsmanagement zu behandeln. Tatsächlich wenden einer Untersuchung zufolge jedoch nur 33 Prozent der Therapeuten dieses für die Behandlung von Zwangserkrankungen bewährte Verfahren "immer" und weitere 39 Prozent "meistens" an. Und von diesen 72 Prozent sind dann nur 30 bis 40 Prozent bereit, mit dem Patienten auch außerhalb der Therapieräume (zum Beispiel Zuhause oder am Arbeitsplatz) zu üben, was sich laut dem Bamberger Zwangsexperten als besonders wichtig entpuppt hat. Als Grund dafür geben die meisten Therapeuten an, dass Ihnen die durch eine mehrstündige Sitzung außerhalb der therapeutischen Praxis anfallenden Kosten von den Krankenkassen nicht angemessen erstattet werden.

    "Das bedeutet", so Hans Reinecker weiter, "dass für rund 8.500 Patienten lediglich ein Therapeut zur Verfügung steht, der bereit und in der Lage ist, Patientinnen und Patienten mit gravierenden Zwangsstörungen zu behandeln. Die Entwicklung neuer und neuster Verfahren ist somit gar nicht unbedingt erforderlich - ein großer Fortschritt wäre es bereits, wenn die wirksamen Verfahren wirklich konsequent eingesetzt würden!"

    "Die Kunst- und Gestaltungstherapie legt die verschütteten Emotionen der Zwangspatienten frei!"

    Dass kreative Therapieverfahren das verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramm durchaus gewinnbringend unterstützen können, demonstrierte anschließend Dr. med. Carl Leibl, stellvertretender ärztlicher Direktor und Chefarzt der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck (Prien am Chiemsee), anhand einiger mitgebrachter Bilder. Die Kunst- und Gestaltungstherapie eignet sich laut Leibl besonders dazu, die verschütteten Emotionen der Zwangspatienten frei zu legen und entsprechend zu bearbeiten. Kunstkenntnisse seien hierzu nicht erforderlich, sondern können sogar hinderlich sein, erzählt er weiter. "Wichtig ist, dass die Betroffenen aus dem Bauch heraus arbeiten."

    Um seinen Patienten die Zeit zwischen den Therapiesitzungen zu erleichtern, hat Dr. Dipl.-Psych. Christoph Wölk, niedergelassener Verhaltenstherapeut in Lohne bei Oldenburg und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen, mit "Brainy das erste computergesteuerte Trainingsprogramm für Zwangserkrankte entwickelt. Als eine Art virtueller Co-Therapeut unterstützt "Brainy" als verlängerter Arm des Therapeuten den Betroffenen bei allen Tätigkeiten, die er aufgrund seiner Zwangssymptomatik zeitlich nur schwer begrenzen kann. Der Patient kann beispielsweise eingeben, wie viel Zeit er für die entsprechenden Handlungen (z.B. Hände waschen, putzen, Haustür kontrollieren) aufwenden will. Ist die Zeit abgelaufen, so fordert "Brainy" erst freundlich und dann immer energischer dazu auf, die Tätigkeit sofort zu beenden. Das Buch mit CD -Rom ist für 40 Euro im Buchhandel erhältlich.

    Anhang:

    Lebensläufe Betroffener (Untersuchung von Prof. Hans Reinecker):

    Beispiel 1:

    Eine 30jährige Patientin mit belastenden Tötungsgedanken gegenüber ihren Kindern erhält bei der stationären Aufnahme von dem Leiter der psychiatrischen Abteilung eines bekannten Krankenhauses folgende Ratschläge:
    · Sie solle sich schonen und "bloß nicht daran denken"!
    · Wenn Angst und Unruhe zu groß werden, sollte sie sich in eine Decke einwickeln
    · Sie solle unbedingt in die Gestaltungstherapie gehen
    · Als sie den Wunsch nach einer Verhaltenstherapie äußert, sagt man ihr wörtlich: "Verhaltenstherapie bringt ja nichts!"

    Beispiel 2:
    Ein 38-jähriger Patient leidet seit 20 Jahren an massiven Kontroll- und Waschzwängen, die bis zu 8 Stunden am Tag in Anspruch nehmen.
    Zum Verlauf:
    · Beginn mit circa 18 Jahren
    · Aufsuchen des Hausarztes
    · Abitur mit großer Mühe und medikamentöser Unterstützung
    · Besuch eines Heilpraktikers
    · Aufsuchen eines Psychiaters (ambulant) Diagnose: Symptomfreie Schizophrenie
    · Mit 24 Jahren: Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, 12 Wochen Behandlung mit Neuroleptika
    · Wieder Besuch beim Heilpraktiker - Behandlung mit pflanzlichen Medikamenten
    · Hausarzt, Überweisung in die Psychiatrie
    · Ab 28 Jahren: großteils arbeitsunfähig und krank geschrieben
    · 2 Jahre Psychoanalyse, die eine gewisse Beruhigung bringt - aber keine Übungen zur Bewältigung des Problems
    · Eltern veranlassen die Durchführung eines Exorzismus wegen angeblicher Besessenheit
    · Zufällig erfährt der Patient von der Möglichkeit ambulanter Verhaltenstherapie


    Weitere Informationen:

    http://www.zwaenge.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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