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29.10.2019 07:33

Soziale Arbeit zwischen nationalsozialistischer Volksfürsorge und Menschenrechtsprofession

Katja Klein M.A. Pressereferat
Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt

    „Wie konnte man einfach so weitermachen?“ Hundert Wissenschaftler gingen dieser Frage an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt (FHWS) nach

    Wenn der Begriff „Soziale Arbeit“ fällt, assoziieren heute viele mit ihm eine Menschenrechtsprofession – Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter seien diejenigen, die sich um Menschen, Einzelschicksale kümmern – eher unpolitisch und mit dem Konzept, den sozialen Zusammenhalt zu fördern, Menschen in ihrer Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken – auch in schwierigen Lebenslagen. Dass das nicht immer so war, beleuchtete die Tagung „Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Sozialpädagogik / Sozialarbeit im Übergang vom Nationalsozialismus zur Nachkriegszeit“ an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt.

    Die rund hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer gingen der Frage nach, ob es ab Mai 1945 eine „Stunde Null“, eine Zäsur in der Sozialarbeit gab. Sie beleuchteten die historischen Entwicklungen aus fünf verschiedenen Perspektiven – aus personeller, ideologischer, organisatorisch-institutioneller Beständigkeit bzw. Änderungen, Kontinuitäten / Diskontinuitäten auf der Ebene von Politik und Praxen sowie aus der Rezeption und Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Behielten im Nachkriegsdeutschland diejenigen Denkweisen und Handlungen Bestand, die während der Diktatur handlungsweisend waren oder entwickelte sich eine konzeptionell-praktische Neuorientierung?

    Die damalige Wohlfahrtspflege der Weimarer Republik wurde im Sinne der NS-Ideologie instrumentalisiert: Die Vergabe von Sozialleistungen wurden ab 1933 durch rassistische Merkmale definiert: Die Volksgemeinschaft und -hygiene wurde über die Bedürftigkeit einzelner Menschen gestellt; Kranke, Behinderte wurden abgegrenzt, ausgesondert, zwangssterilisiert, auch umgebracht auf Grundlage neuer Gesetze wie u.a. den Rassengesetzen, dem Reichsbürgergesetz, dem Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz. Viele Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter leisteten in diesem System die Vorarbeit, trafen Entscheidungen, wer Hilfe erwarten konnte.

    Die Organisatoren der Tagung stellten im „Call for Paper“ einleitend fest: „Während zur Geschichte Sozialer Arbeit im Nationalsozialismus mittlerweile eine große Zahl von Veröffentlichungen vorliegen, gilt dies für die frühe Nachkriegszeit in der BRD und DDR nicht bzw. nur sehr eingeschränkt. Bilanziert man die dazu vorliegenden Beiträge in aller Vorsicht, zeigt sich, dass die politische Zäsur des Jahres 1945 mit Blick auf die institutionelle Infrastruktur, das Personaltableau, aber auch hinsichtlich existierender Deutungs- und Handlungsmuster keineswegs eine ,Stunde Null` war. Im Gegenteil: In den beiden postnazistischen Nachkriegsgesellschaften blieben Denkweisen, Konzepte und Praxen virulent, die bereits während der Jahre der nazistischen Diktatur handlungsleitend waren.“ Es könne festgestellt werden, dass sich „in der Sozialen Arbeit der Nachkriegszeit ,jeweils spezifische Elemente der Kontinuität mit solchen der Diskontinuität` mischten.“ Personell-biografisch sei „weit weniger über das Personal auf mittlerer politisch-administrativer Ebene sowie vor allem auf der Ebene praktisch-operativer Sozialarbeit bekannt.“ Betrachte man die weltanschaulich-ideologischen Perspektiven, könne man vermehrt von einem „Fortbestehen nazistischer Denkmuster“ ausgehen mit „weit in die 1960er Jahre hineinreichende (Weiter-) Existenz sozialrassistischer, rassenbiologischer und eugenischer Deutungsmuster und Problemwahrnehmungen.“

    Im Bereich der Organisationen und Institutionen der direkten Nachkriegszeit habe es ein „starkes Moment der Beharrung und funktionaler Kontinuitäten“ gegeben, später gelang es in Westdeutschland „vergleichsweise rasch“, das Muster des Wohlfahrtsstaates „aus vornazistischer Zeit wiederherzustellen und zu konsolidieren“. Auf der Ebene der Alltagspraxen könne man 1945 von keiner einschneidenden Zäsur ausgehen, so die Organisatoren weiter, in der unmittelbaren Nachkriegszeit habe vielmehr „das pragmatische Bewältigen der Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung im Mittelpunkt gestanden“. Betrachte man abschließend die Rezeption der NS-Geschichte und Aufarbeitung der Vergangenheit, müsse man feststellen, dass Mitarbeiter der Sozialarbeit sich „vergleichsweise spät“ mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzten, geprägt von einer „Verdrängung und Bagatellisierung.“

    Zu den einzelnen Beiträgen:

    Professor Dr. Sven Steinacker von der Hochschule Niederrhein referierte zum Thema „Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Sozialen Arbeit in der Nachkriegszeit – Befunde und offene Fragen“. Insgesamt gehe er von einem uneinheitlichen Bild mit Kontinuitäten und Diskontinuitäten aus. Nach 1945 sei der Wiederaufbau sozialer Strukturen „restaurativ“ verlaufen, Neustrukturen seien kaum zu erkennen gewesen. Gerade auch auf Führungsebene seien viele im Sozialwesen wieder zu Amt und Würden gelangt, obwohl deren Tätigkeiten zwischen 1933 und 1945 bekannt gewesen seien. Die Bereitschaft, sich mit Fehlhandlungen auseinanderzusetzen, sei gering gewesen.

    Professor Dr. Christian Schrapper, Universität Koblenz-Landau, stellte in seinem Vortrag Hans Muthesius als einen „,Paradefall` für Kontinuität und Diskontinuität Sozialer Arbeit in Deutschland zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik“ vor. Der Autor des 1993 erschienenen Buches „Hans Muthesius (1885 – 1977). Ein deutscher Fürsorgejurist und Sozialpolitiker zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik“ zeigte auf, wie der Träger zweier Bundesverdienstkreuze (1953, 1960) und die damalige Leitfigur Sozialer Arbeit aufgrund der Tätigkeit im Reichsinnenministerium und „der durch Quellenzeugnisse belegten Verstrickungen in nationalsozialistische ,Volkspflege`“ kritisch betrachtet werden musste: Die Benennung des Hauses des Deutschen Vereins (Forum des Sozialen, Berlin) und die Ehrenplakette nach Hans Muthesius wurden rückgängig gemacht. Zur Vita: Muthesius wurde ab 1914 in der Fürsorge tätig, als es noch keinen Rechtsanspruch des Einzelnen auf eine gesicherte Existenz gab. Ab 1940 war er Referatsleiter im Reichsinnenministerium und wirkte dort an verbrecherischen NS-Gesetzen mit; er war Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der NSDAP. Bis 1945 war er u.a. zuständig für die deutschen Jugendkonzentrationslager Mohringen (Jungen) und Uckermark (Mädchen) sowie Litzmannstadt in Polen, er ordnete die Verschleppung und „Eindeutschung“ polnischer Kinder an, meldete nichteheliche Kinder deutscher Frauen und „fremdvölkischer“ Erzeuger an die Geheime Staatspolizei, „sittlich ungeeignete“ entlassene junge Frauen aus dem Reichsarbeitsdienst an Jugendämter.

    Nach dem Krieg, so führte Schrapper weiter aus, sei Muthesius bereits im Juni 1945 als Verwaltungsdezernent im Gesundheitsamt Potsdam eingesetzt worden. 1950 Vorsitzender des Deutschen Vereins, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, Ernennung zum Titularprofessor durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Der Referent stellte abschließend fest, dass Traditionslinien moderner deutscher Sozialarbeit und Sozialpädagogik nicht geprägt wurden von „mutigen Widerstandskämpfern“, sondern von Männern und Frauen wie Hans Muthesius.

    Professor Dr. Manfred Kappeler von der Technischen Universität Berlin referierte zum Thema „Die Auslöschung der Erinnerung an die Beteiligung Sozialer Arbeit an der NS-Bevölkerungspolitik durch Organisationen, Institutionen und Personen in der sog. Nachkriegszeit“: Zur Erinnerungsarbeit gehört die Frage, warum so lange geschwiegen wurde: „Die Geschichte der Sozialen Arbeit in den ersten Jahren nach dem Ende des NS-Staates ist die Geschichte einer ungenützten Chance für einen grundlegenden Neuanfang. Statt sie zu ergreifen, wurden die Verstrickungen mit dem NS-Regime vertuscht und Sichtweisen und Praxen weitergeführt, auf deren Bahnen Soziale Arbeit in die Verstrickungen mit dem Regime geriet. Das konnte nur gelingen, weil sich die Repräsentanten der Wohlfahrtspflege weigerten, den Blick auf die Opfer ihres eigenen Handelns zu richten. Stattdessen erklärten sie die Deutschen sofort zu ,Opfern des Krieges` und damit implizit zu Opfern Hitlers. Sie bezeichneten die Wohlfahrtspflege und sich selbst als `Opfer des Nationalsozialismus`, von dessen Bevölkerungspolitik sie sich immer distanziert hätten, bis hin zum Widerstand. Sie benutzten die ,große Not der Deutschen`, um ihr bruchloses Weitermachen zu legitimieren.“

    Kappeler weiter: „Dass sie diese Legenden erfolgreich etablieren konnten, lag an dem großen Bedürfnis der Professionellen der Wohlfahrtspflege in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, eine positive berufliche Identität zu besitzen, die, als vermeintlich unpolitische, christlichen und humanistischen ,überzeitlichen Werten` verpflichtet, definiert wurde. Diese ,Identität` ist allerdings ein idealistisches Konstrukt, das die Wirklichkeit Sozialer Arbeit von jeher ideologisch verdeckt hat. Meines Erachtens ist es die Aufgabe einer selbst-aufklärenden kritischen Geschichtsschreibung, den identitätspolitischen Bestrebungen und Versuchungen in der Sozialen Arbeit zu begegnen.“

    Professorin Dr. Diana Franke-Meyer und Professorin Dr. Carola Kuhlmann von der Evangelischen Hochschule RWL in Bochum thematisierten in ihrem gemeinsamen Vortrag die politischen Diskontinuitäten (Demokratie- und Friedenserziehung) sowie die latenten pädagogischen Kontinuitäten (Disziplin- und Arbeitserziehung) nach 1945 in der Kindergarten- und Heimerziehung der frühen DDR. Am Beispiel der Zeitschrift „Neue Erziehung in Kindergarten und Heim" wiesen sie nach, wie auch die Ziele der Demokratie- und Friedenserziehung durch das Volksbildungsministerium spätestens ab 1950 zu leeren Formeln wurden, da die Erziehung zu „glühendem Patriotismus" und die führende Rolle der Erziehers im Kollektiv in Anlehnung an die Sowjetpädagogik vorgeschrieben wurde.

    Professor Dr. Dieter Röh, die Historikerin Barbara Dünkel und die Studierende Frederike Schaak von der Hochschule Hamburg stellten in einem abschließenden Vortrag die Frage „Wie konnte man einfach so weitermachen? Einblicke in den Umgang mit der NS-Zeit im Sozialpädagogischen Institut Hamburg“. Röh fasste zusammen, dass die Geschichte der Sozialarbeit am Institut gut aufgearbeitet sei – vom Ehrenamt bis hin zur Profession. Dünkel ging ins Jahr 1923 zurück, als der Stadtstaat Hamburg das Institut verstaatlichte. Als Folge der engen Verflechtung zwischen Ausbildung und Politik konnte eine schnelle Gleichschaltung der Ziele der Diktatur ohne Widerstand erfolgen. 1934 umbenannt in „Volkspflegeschule“, wurde das Hamburger Institut auf die NS-Ideologie ausgerichtet. Bedingt durch den Krieg gab es immer weniger Personal sowie Fachkräfte. Es fand eine Ent-Akademisierung statt, Laien wurden nachqualifiziert oder Frauen ohne jegliche Ausbildung im Institut eingesetzt. Nach 1945 blieben diese oft auch weiterhin im Amt. Schaak kritisierte, die Sozialarbeiter hätten die NS-Ideologie nicht in Frage gestellt. Das Interesse an einer Re-Education sein nicht vorhanden gewesen, das Bestreben ging dahin, möglichst unauffällig zu bleiben. (Re-Education: demokratische Bildungsarbeit im Zuge der Entnazifizierung). Man könne von Kontinuität der Sozialarbeiter im Amt sprechen: Erst blieben diese über 1945 hinaus, damit im Nachkriegsdeutschland nicht die soziale Fürsorge zusammenbrach; anschließend verblieben sie in ihren Positionen. Schaak betonte, die Soziale Arbeit habe keine ethisch orientierte Ausrichtung gehabt, sie ließ sich vielmehr von der Diktatur funktionalisieren. Erst später in den 60er Jahren habe es eine Neuausrichtung des Instituts gegeben.

    Zur wissenschaftlichen Tagung eingeladen hatten Professor Dr. Ralph-Christian Amthor, FHWS, Professorin Dr. Birgit Bender-Junker, Evangelische Hochschule Darmstadt, Professorin Dr. Carola Kuhlmann, Evangelische Hochschule Bochum sowie Professor Dr. Sven Steinacker, Hochschule Niederrhein. Bundesweit rund hundert Teilnehmer nahmen teil – fast gänzlich Hochschul- sowie Universitäts-Professor, Habilitanten und Doktoranden zur historischen Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit. Das dreitägige Programm setzte sich zusammen aus fünf Plenumsvorträgen sowie 36 Vorträgen in 18 Arbeitsgruppen. Darüber hinaus wurden zwei historische Führungen angeboten. Die Tagung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung finanziell gefördert.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Hochschule Würzburg-Schweinfurt
    Prof. Dr. Ralph-Christian Amthor
    Münzstr. 12
    97070 Würzburg
    0931-3511-8801
    ralph.amthor@fhws.de


    Weitere Informationen:

    https://fas.fhws.de/fakultaet/historische-tagung/


    Bilder

    Teilnehmer der Tagung an der FHWS
    Teilnehmer der Tagung an der FHWS
    (Foto FHWS / Amthor)
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Recht
    überregional
    Kooperationen, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

    Teilnehmer der Tagung an der FHWS


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