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22.11.2019 09:30

Neues Medikament zur Behandlung der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS)

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    MS verläuft in ca. 80% der Fälle schubförmig. Nach über zehn Jahren kann sie aber allmählich in eine chronisch-fortschreitende Form mit kontinuierlich zunehmender Behinderung übergehen, die nicht mehr so gut zu behandeln ist wie die schubförmige Verlaufsform. Verlaufsmodifizierende (immunmodulierende) Dauertherapien können die Krankheitsaktivität reduzieren und die Schubrate erfolgreich senken. Der Übergang in die sekundär progrediente Verlaufsform kann hinausgezögert werden. Mit Ozanimod, einer Weiterentwicklung von Fingolimod, könnte hier künftig ein neues, wirksames, relativ gut verträgliches Präparat zur Verfügung stehen. Zwei Phase-III-Studien wurden erfolgreich abgeschlossen [1, 2].

    Die Multiple Sklerose ist die häufigste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, betrifft also Gehirn und Rückenmark. Weltweit sind etwa 2.5 Millionen, in Deutschland etwa 230.000 Menschen betroffen. MS ist eine Autoimmunerkrankung, d. h. das Immunsystem richtet sich fälschlicherweise gegen körpereigene Zellen und Gewebe und schädigt diese. Es gibt verschiedene Verlaufsformen der MS. Zu Beginn der Erkrankung ist in ca. 80% der Fälle ein schubförmiger Verlauf vorhanden (rezidivierend-remittierende MS: RRMS), wobei zwischen den Schüben meist eine gute Erholung erfolgt. Viel seltener (ca. 10%) ist eine chronische, primär progrediente MS (PPMS), bei der die Erkrankung allmählich fortschreitet und langsam zunehmend zu Behinderungen führt. Nach vielen Jahren kommt es auch bei RRMS sehr häufig zu einem sekundär progredienten Verlauf (SPMS).

    Heute ist MS relativ gut behandelbar, aber nicht heilbar. Therapeutisch steht bei einem akuten Schub die Unterdrückung der aktuellen Entzündung bzw. des Immunsystems mit Kortisonpräparaten im Vordergrund. Die zweite Säule ist eine langfristige, verlaufsmodifizierende bzw. immunmodulierende Therapie, die die Zahl der Schübe, Krankheitsaktivität und -last in der Kernspintomografie reduziert und verhindern soll, dass eine RRMS in eine SPMS übergeht. Dabei stehen verschiedene Substanzen zur Verfügung, es wird zwischen Basistherapie (Interferon-beta und Glatirameracetat) und Eskalationstherapie (mit stärker wirksamen Substanzen) unterschieden. Die Forschung arbeitet mit Hochdruck daran, immer bessere und sicherere Präparate zu entwickeln.

    Zwei aktuelle Phase-III-Studien untersuchten Ozanimod, einen immunmodulierenden Wirkstoff aus der Gruppe der oralen Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren (S1P-Rezeptor-Agonisten), zu denen auch Fingolimod (seit 2011 verfügbar) und Siponimod (seit 2019 in den USA zugelassen) gehören, bei Patienten mit schubförmiger MS. S1P-Rezeptor-Agonisten binden an S1P-Rezeptoren, wodurch verhindert wird, dass Immunzellen (Lymphozyten) Lymphknoten verlassen können. Ihre Zahl im Blut sinkt ab. Ozanimod ist eine Weiterentwicklung dieser Substanzgruppe und bindet selektiv an die S1P-Rezeptor-Untertypen 1 und 5. Zwei Studien („RADIANCE B“ von 12/2013-3/2015 und „SUNBEAM“ von 12/2014 -11/2015) untersuchten Wirksamkeit und Sicherheit bei einer großen Zahl RRMS-Patienten und verglichen mit Interferon(IFN) β-1a. Die Patienten waren 18-55 Jahre alt, der Behinderungsgrad (EDSS-Score) lag bei 0 - 5,0. Sie hatten entweder mindestens einen Schub im Jahr vor Studieneinschluss oder mindestens einen Schub innerhalb von zwei Jahren davor plus mindestens einen Kontrastmittel-aufnehmenden T1 MS-Herd in der Kernspintomographie des Gehirns. Die Patienten wurden doppelblind in drei Gruppen (1:1:1) randomisiert; sie erhielten täglich oral 1 mg oder 0,5 mg Ozanimod oder wöchentlich als aktive Vergleichssubstanz 1 x 30 μg IFN-β-1a intramuskulär. Primärer Endpunkt war in beiden Studien die jährliche Schubrate.

    Die RADIANCE-Studie wurde über 24 Monate an 147 MS-Zentren in 21 Ländern durchgeführt (1.320 Patienten) [1]. In den drei Gruppen waren jeweils über 400 Patienten. Insgesamt 86,7% der Patienten schlossen die 24 Monate der Therapie ab. Im Ergebnis sank die jährliche Schubrate mit 1 mg/d Ozanimod um 83% (adjustierte RR 0,17), mit 0,5 mg/d um 78% (adjustierte RR 0,22) und mit IFN-β-1a um 72% (RR 0,28). Im Vergleich zu IFN-β-1a war Ozanimod signifikant besser wirksam, nämlich um 21% bei 0,5 mg (RR versus IFN 0,79; p=0,0167) bzw. um 38% bei 1 mg (RR versus IFN 0,62; p<0,0001). Die Rate an Nebenwirkungen war in der IFN-Gruppe höher (83% der Patienten) als unter Ozanimod (74,7% in der 1-mg- und 74,3% in der 0,5-mg-Gruppe). Keine signifikanten Gruppenunterschiede gab es hinsichtlich Infektionen oder anderen schweren, unerwünschten Wirkungen.

    Die SUNBEAM-Studie wurde an 152 MS-Zentren in 20 Ländern durchgeführt (1.346 Patienten) [2]. Die Patienten erhielten die Therapien in den drei Gruppen (jeweils ca. 450 Patienten) für mindestens 12 Monate. Therapieabbrüche gab es insgesamt nur bei 91 (6,8%) aller Patienten (n=29 und 26 bei Ozanimod, 36 bei IFN). Im Ergebnis sank die jährliche Schubrate mit 1 mg/d Ozanimod um 82% (adjustierte RR 0,18), unter 0,5 mg/d Ozanimod um 76% (adjustierte RR 0,24) und mit IFN-β-1a um 65% (RR 0,35). Im Vergleich zu IFN-β-1a war Ozanimod ebenfalls wieder signifikant besser wirksam, und zwar um 31% bei 0,5 mg (RR versus IFN 0,69; p=0,0013) bzw. sogar um 48% bei 1 mg (RR versus IFN 0,52; p<0,0001). Schwere unerwünschte Ereignisse waren selten, ihre Häufigkeit war in den drei Gruppen ähnlich (2,5 bis 3,5%). Nebenwirkungs-bedingte Therapieabbrüche waren selten (1,5 bis 3,6%). Es gab unter Ozanimod keine ernsten Infektionen oder kardialen Nebenwirkungen.

    Beide Phase-III-Studien mit insgesamt über 2.600 Patienten zeigten bei schubförmiger MS gegenüber der Interferon-Therapie eine signifikant bessere Wirksamkeit von Ozanimod, die Schubrate verringerte sich deutlich stärker; dasselbe traf für die kernspintomografischen Marker der Krankheitsaktivität und –last zu. In der SUNBEAM-Studie war die Ozanimod-Wirkung sogar noch etwas besser als in der RADIANCE-Studie. „Das effektive Verhindern neuer Schübe sowie der kernspintomografisch erfassbaren Krankheitsaktivität gehört zu den wichtigsten Therapiezielen bei der MS“, erläutert Prof. Dr. Hans-Peter Hartung, Direktor der Klinik für Neurologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. „Insgesamt wurde Ozanimod gut vertragen, das ist natürlich wichtig, um Therapieabbrüche zu vermeiden.“

    „Als Nebenwirkung können S1P-Rezeptor-Modulatoren Herzfrequenzabfälle bzw. Reizleitungsstörungen verursachen, daher erfolgt wie auch bei Fingolimod nach der ersten Gabe eine 6-stündige EKG-Überwachung gemäß einer speziellen Checkliste“, so Prof. Hartung. „Es ist sehr erfreulich, dass in den beiden Studien mit dem selektiven Rezeptormodulator Ozanimod keine klinisch relevanten kardialen Nebenwirkungen auftraten. Mit dieser Weiterentwicklung könnte künftig eine weitere neue Therapieoption mit starker Wirkung gegen die RRMS zur Verfügung stehen. Natürlich müssen alle Patienten unter Ozanimodbehandlung wie mit allen anderen MS-Therapien immer hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen individuell überwacht werden.“

    Literatur
    [1] Cohen JA, Comi G, Selmaj KW; RADIANCE Trial Investigators. Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (RADIANCE): a multicentre, randomised, 24-month, phase 3 trial. Lancet Neurol 2019 Nov; 18 (11): 1021-33
    [2] Comi G, Kappos L, Selmaj KW et al.; SUNBEAM Study Investigators. Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (SUNBEAM): a multicentre, randomised, minimum 12-month, phase 3 trial. Lancet Neurol 2019 Nov; 18 (11): 1009-20

    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 9900 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Past-Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


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