Jubiläumskonferenz
Spinner, Weber und Maschinen
Vor 200 Jahren lösten mechanische Spinnereien die industrielle Revolution aus
Die französische Revolution von 1789 fegte Könige vom Thron und veränderte die Landkarte Europas. Doch sie hat unser Leben nicht so verändert wie jene Umwälzung, die Mitte des 18. Jahrhunderts in England begann: die industrielle Revolution. Ihren Anfang nahm sie mit der Erfindung der Spinnmaschine. Und anders als diese große politische Revolution läßt sie sich auch nicht wie ein Rad zurückdrehen.
Vor genau 200 Jahren, am 6. November 1798, erreichten die ersten Ausläufer der industriellen Revolution auch Deutschland, genauer gesagt: Chemnitz. Damals erteilte der Kurfürst von Sachsen den beiden Kaufleuten Carl Friedrich Bernhard und Johann August von Bugenhagen die Erlaubnis, oder, wie es damals hieß, das "Privilegium exclusivum", in Harthau bei Chemnitz eine Baumwollspinnerei zu errichten und zu betreiben - der Aufstieg der Stadt zur führenden deutschen Textil- und Werkzeugmaschinenbaustadt, zur Stadt mit dem höchsten Steueraufkommen im Deutschen Reich begann. Von den 10.000 Einwohnern waren damals über 1.600 Weber. Aus diesem Anlaß veranstaltet die Stadt Chemnitz am 6. und 7. November 1998 gemeinsam mit der Chemnitzer Uni, dem Chemnitzer Geschichtsverein und der Industrie- und Handelskammer (IHK) Südwestsachsen eine wissenschaftliche Konferenz mit dem Titel "200 Jahre erste Baumwollmaschinenspinnerei in Sachsen". Teilnehmen können auch an der Industrie. und Technikgeschichte interessierte Bürger (Teilnahmegebühr 70 Mark, für Studenten frei).
Die Konferenz beginnt am Freitag um 9 Uhr im Chemnitzer IHK-Gebäude, Straße der Nationen 25. Morgens stehen Vorträge zum Einfluß des Bernhardschen Spinnerei auf die Entwicklung von Chemnitz und zu den wichtigsten Erfindungen in der Textilindustrie - die ausnahmslos in England gemacht wurden - auf dem Programm. Nachmittags diskutieren die verschiedenen Referenten in drei Arbeitsgruppen die Bedeutung der damaligen technischen Veränderungen auf Wirtschaft und Gesellschaft für Chemnitz und das übrige Sachsen, aber auch für andere Teile Deutschlands und für Europa als Ganzes.
Am Sonnabend schließlich brechen die Konferenzteilnehmer zu einer Exkursion in den Chemnitzer Vorort Harthau auf - einige Gebäude der Bernhardschen Spinnerei, so das klassizistische Kontorgebäude, das Fabrikgebäude, das Meisterwohnhaus und die Fabrikschule, stehen noch, wenn sie auch in einem recht beklagenswerten Zustand sind. Nach einer Podiumsdiskussion um 10.30 Uhr geht's dann nachmittags zu weiteren historischen und neuen Textilunternehmen in Chemnitz und Umgebung. Und davon gibt es reichlich, schließlich wurden hier im Laufe der Zeit hunderttausende von Webstühlen gebaut und in alle Welt exportiert.
Stichwort: Industrielle Revolution
Es muß ein seltsames Klima geherrscht haben, damals, um die Mitte des 18. Jahrhunderts in England und auch im Rest Europas. Fasern für Kleidung und Wäsche gab es eigentlich genug: das heimische Leinen, Flachs, Wolle, die aus den Kolonien, vor allem England und Indien, stammende Baumwolle. Auch aus Hanf und sogar aus Brennesselfasern webte man Stoffe. Dennoch fehlte es an Tuch. Der Grund: Die Fasern mußten von Hand versponnen werden, und das dauerte.... Dazu wurde das um das Jahr 1000 in China erfundene Spinnrad benutzt, das sich seit etwa 1200 auch in Europa durchsetzte - zuvor hatte man nur die Handspindel gekannt. Um nur einem einzigen Weber das nötige Garn zu liefern, mußten bis zu zehn Spinnerinnen tätig sein. Die Weber mußten oft die ganze Gegend abklappern, um genug Garn für ihre Webstühle zu bekommen.
Und es kam noch schlimmer: 1733 erfand der englische Tuchmacher John Kay den "Schnellschützen", ein Weberschiffchen, das von Schnüren durch das Gewebe bewegt wurde - vorher mußte der Weber dies von Hand machen. Der Schnellschütz verdoppelte schlagartig die Geschwindigkeit des Webens - nun waren zwanzig Spinnerinnen nötig, um einen einzigen Weber mit Garn zu versorgen, es kam zu einem regelrechten "Garnhunger". Man zwang Strafgefangene, Bettler, "Herumstreuner" zum Spinnen, sogar die preußischen Soldaten verbrachten einen Teil ihrer Dienstzeit statt mit exerzieren mit spinnen. Es blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, das Spinnrad weiterzuentwickeln und den Spinnvorgang zu maschinisieren.
Der erste Versuch gelang 1733 dem englischen Zimmermann J. Wyatt. Dabei wurden die einzelnen Textilfasern zwischen zwei Walzen geklemmt, verzwirnt und aufgewickelt. Doch dieses erste Modell einer Spinnmaschine, die noch mit einer Handkurbel bewegt werden mußte, konnte sich nicht durchsetzen. Erst 1764 gelang es James Hargreaves, eine brauchbare Spinnmaschine zu bauen, die er nach seiner Tochter "Spinning Jenny" nannte. Hier wurde das Garn schon auf zunächst acht, später dann 16 Spindeln gleichzeitig aufgewickelt. 1769 dann baute R. Arkwright die erste "Waterframe", die bereits von einem Wasserrad angetrieben wurde - die grundlegenden Ideen dazu hatte er, auch heute nicht selten Erfinderschicksal, bei dem Mechaniker Th. Highs geklaut. Doch sowohl die "Jenny" als auch die Waterframe hatten große Nachteile: Die erste lieferte zwar feines Garn, diese war jedoch nicht richtig verzwirnt und riß leicht; die zweite lieferte zwar feste, aber nur für grobe Stoffe geeignete Fäden. Diese Mängel hatte die 1774 von dem Mechaniker S. Crompton entwickelte "Mule" (englisch für Maultier) nicht mehr: Sie lieferte eine qualitativ gutes Garn und besaß anfangs 400 Spindeln, spätere, um 1830 gebaute Modelle kamen gar bis auf 1.000 Spindeln. Die Mule konnte sowohl mit Wasserkraft als auch mit einer Handkurbel angetrieben werden. Der englische Mechaniker Richard Roberts entwickelte sie ab 1825 zum "Selfaktor" (etwa: selbsttätiger Macher) weiter, die schon alle wesentlichen Merkmale moderner Spinnereimaschinen hatte.
Schon die Mule hatte dazu geführt, daß sich das Verhältnis von Spinnen zu Weben umkehrte, es gab keinen "Garnhunger" mehr, es gab plötzlich zuviel Garn - die Weber kamen mit der Verarbeitung nicht mehr nach. Die Folge: Nun mußte man darüber nachdenken, wie man den Webstuhl verbessern und schneller machen konnte. Einen ersten mechanischen, durch Wasserkraft angetriebenen Webstuhl hatte schon der Franzose J. Vaucanson 1745 gebaut, die aber noch sehr unvollkommen war. 1785 entwickelte der Engländer Edmund Cartwright seinen mechanischen Webstuhl, der aber eben an Kinderkrankheiten litt. Doch Cartwright gelang es bis 1792, seinen Webstuhl so zu verbessern, daß er problemlos eingesetzt werden konnte. Besonders wichtig war dabei, daß eine einzige Antriebswelle die gesamte Mechanik bewegte, was zuvor nicht möglich war. Damit war der Bann gebrochen: In den folgenden Jahren wurde der Webstuhl von unzähligen anderen Erfindern verbessert. Der Wichtigste unter ihnen war der Franzose Joseph-Marie Jacquard, der eine Lochkartensteuerung für Webstühle erfand, so daß man bestimmte Muster weben konnte - er wurde damit gleichzeitig zu einem der "Großväter" der heutigen Computer. Um 1820 gab es in England schon 14.000 mechanische Webstühle, bis 1834 stieg ihre Zahl auf etwa 100.000 an. Gleichzeitig führten die neuen Ideen auf dem Gebiet der Textiltechnik auch zu weiteren Entwicklungen auf anderen Gebieten, die die Ära des Maschinenbaus einleiteten.
Bis etwa 1820 kamen übrigens nahezu alle Spinnmaschinen der Welt aus England. Auch die ersten in Sachsen gebauten sind letztlich englischen Ursprungs: Sie wurden durch abgeworbene englische Maschinenbauer, im Falle der Bernhardschen Spinnerei etwa durch den Spinnmeister Evan Evans gebaut. Den hatten Carl Friedrich Bernhard und sein Bruder Carl Ludwig zuvor in Manchester kennengelernt, wo die Brüder gemeinsam von 1791 bis zu ihrer Ankunft in Chemnitz eine Baumwollspinnerei betrieben hatten. Auch um Patentrechte - ein Patentwesen gab es damals schon in England - kümmerte sich so gut wie niemand, so daß man die Bernhard-Brüder mit Fug und Recht als frühe Industriespione bezeichnen kann. Doch 1820 verboten die Engländer die Ausfuhr von Textilmaschinen, um die Konkurrenz auf dem Festland auszuschalten - ein früher Fall von wirtschaftlichem Protektionismus und unternehmerischer Fehlentscheidung.
Denn erreicht wurde das genaue Gegenteil: Besonders die Sachsen und die Schweizer begannen, ihre eigenen Maschinen zu bauen. Und die erwiesen sich erst als gleichwertig und bald danach als wesentlich besser - England ging ein großer Markt verloren. Den gleichen Fehler machten die Briten rund 50 Jahre später übrigens noch einmal - alle Importe aus Deutschland nach England und in die englischen Kolonien mußten die Aufschrift "Made in Germany" tragen, quasi als indirekte Aufforderung: Buy British (Kauf englische Produkte). Doch was als Diskriminierung gedacht war, wurde zum erfolgreichsten Förderprogramm für die deutsche Industrie, das es je gab - sie zehrt zum großen Teil noch heute davon.
Die industrielle Revolution war freilich nicht nur der Beginn des allgemeinen Wohlstands, sie brachte nicht nur bessere und billigere Produkte mit sich: Anfangs überwogen die Nachteile. So änderte sich die Rolle der Frauen - in den entstehenden Fabriken wurden meist Männer gebraucht. Zudem fürchteten viele Menschen, ihren Job zu verlieren. Unbegründet war die Furcht nicht, zumal einige Fabrikherren ihre Arbeiter rigoros ausbeuteten - nicht umsonst spricht man noch heute vom "Manchester-Kapitalismus". Es kam zum Maschinensturm: Weber und Spinner rotteten sich zusammen, zerstörten Webstühle und Fabriken, ermordeten sogar Erfinder, von denen sie sich um Lohn und Brot gebracht glaubten. Am bekanntesten wurde der Aufstand der Ludditten, so genannt nach ihrem Anführer Ned Ludd, eine Art früher Grüner und ebenso kurzsichtig. 1811/12 kam es zu einem regelrechten Aufruhr, den der englische Staat durch 12.000 Soldaten niederschlagen ließ. Ludd und die anderen Anführer wurden zum Tode verurteilt, die anderen Aufständischen nach Australien deportiert.
(Autor: Hubert J. Gieß)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Bauwesen / Architektur, Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Maschinenbau, Wirtschaft
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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