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02.11.1998 00:00

Die Ausstellung der Kasseler Handschriftensammlung

Ingrid Hildebrand Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Kassel

    Kassel. Eigentlich war alles falsch gelaufen zwischen den beiden. Und dann treffen sie sich mit gekreuzten Klingen auf dem Schlachtfeld.
    Die bittere Erkenntnis ereilt den Alten spätestens nachdem sich sein Gegner identifiziert hat. Das gehört zu den Regeln des Kampfes, eine Frage der Ehre. Der Alte erkennt den Jungen, ist ja auch nicht schwer, sieht ihm doch ähnlich, der Bengel. Das hätte er nicht gedacht, nach all den Jahren, ein alter Haudegen wie er das erste Mal unsicher auf dem Schlachtfeld. Als ob es keinen besseren Ort auf dieser Welt gäbe. In voller Montur. Kann doch nicht sein, daß wir uns jetzt die Köpfe einschlagen. Aber der Bengel versteht nicht, will nichts wissen von seinem Vater, der ist doch schon lange tot, gefallen durch das Schwert, irgendwann, nachdem er sich verdrückt hatte. Ihm Stich gelassen, die Mutter und ihn, schmählich geflohen vor seinem Widersacher.
    Das hatten dem Sohn Seefahrer erzählt, und das Bild vom toten Vater hat sich in Hadubrands Gedächtnis gebrannt wie das stolze Ehrenmal auf seiner Brust.
    Der Alte bietet seine Armringe als Zeichen, doch der Junge ist vorsichtig. Mißtrauen war zu Zeiten der Völkerwanderung nicht nur ratsam, sondern mitunter lebendsrettend. Der Alte resigniert, er weiß, wann ein Kampf nicht mehr zu vermeiden ist. "Wohlan nun, waltender Gott", sagt Hildebrand, "Unheil geschieht". Obwohl ihm diese Dickköpfigkeit seines Sohnes einen Stich versetzt, er muß kämpfen gegen sein eigen Fleisch und Blut. Mit gezücktem Schwert stehen sie sich gegenüber, ein erster Hieb, dann entflammt ein wilder Kampf um Leben und Tod. Die Schilde, die sie sich zum Schutz vor Schlägen über den Körper halten, splittern und werden so klein und nutzlos wie Topfdeckel... .
    So oder so ähnlich mag es sich zugetragen haben; ob die beiden unglücklichen Streithähne sich die Schädel gespalten haben oder versöhnlich um den Hals gefallen sind, geht aus der schriftlichen Überlieferung des germanischen Heldenliedes nicht hervor: Der Ausgang dieses Kampfes ist unklar und nicht überliefert. Fest steht lediglich, daß es sich um die älteste und einzige erhaltene Überlieferung germanischer Heldendichtung in deutscher Sprache handelt, ein höchst wertvolles Dokument von einmaliger Bedeutung: Das Hildebrandlied, wohl populärstes Ausstellungsstück der Kasseler Handschriftensammlung in der Murhardschen Bibliothek.
    Beinahe schon ein Wunder ist es, daß überhaupt noch ein Stück Literatur dieser Zeit die mehr als tausend Jahre seit der Niederschrift überstanden hat und so leserlich erhalten ist, gingen doch eine hohe Zahl der Dokumente verloren oder wurden vernichtet.
    Ungefähr im vierten Jahrzehnt des neunten Jahrhunderts, so ist man mittlerweile sicher, entstand die Niederschrift des Heldenliedes. Normalerweise wurden Lieder oder Epen mündlich überliefert und nicht niedergeschrieben. So ist das Hildebrandlied ursprünglich auch kein eigenständiges Dokument, sondern eine Art `RandnotizŽ auf der ersten und der letzten Seite einer Fuldaer Pergamenthandschrift, die bis dahin unbeschrieben waren.
    Um so erstaunlicher ist es, daß diese außergewöhnliche Handschrift schließlich nach Kassel gelangte, wo sie auch heute noch ruht. Aber erst durch Hinweise des Kasseler Bibliothekars Johann Hermann Schmincke wurde man Anfang des 18. Jahrhunderts auf das althochdeutsche Lied aufmerksam, obwohl man schon seit der Übernahme der Fuldaer Klosterbibliothek im Jahr 1632 im Besitz des Dokuments war.

    Umfangreicher Fundus
    Doch nicht nur kampfeslustige Familientragödien spielen sich in den gepanzerten Räumen der wertvollen Handschriftensammlung der Kasseler Gesamthochschulbibliothek ab. Schließlich kann man auf einen knapp 10000 Handschriften starken Fundus zurückgreifen. Natürlich war man zu Zeiten der handschriftlichen Vervielfältigung aufgrund der Knappheit an Pergament auf die naheliegenden Gebiete des täglichen Gebrauchs beschränkt und kannte kaum Belletristik. So ist viel geistliches Schriftgut erhalten, wie zum Beispiel das Liederbuch der Kaiserin Kunigunde aus dem 11. Jahrhundert, ein prachtvolles Graduale, das aus dem alten Kaufunger Kloster in die Bibliothek nach Kassel gelangte. Aber auch Fachschriften sind erhalten wie Bücher der Astrono-mie, der Medizin, der frühen Kartographie, besonders aber aus dem Bereich der Alchemie, wo die Kasseler Handschriftensammlung die größte Sammlung derartiger Schriften in Deutschland besitzt.
    Die Alchemie, die ihren Höhepunkt im 16. Und 17. Jahrhundert hatte, erschloß ihren Sinn aus dem Glauben an die Verwandelbarkeit der Materie, Unvollkommenes in Vollkommenes zu verwandeln. Daß sich die naturwissenschaftlichen Tätigkeiten weit über die Versuche der Goldherstellung erstreckten, bezeugen die zahlreichen Dokumente dieser Zeit. Herausragendes Exemplar ist hier das "Lux lucens in tenebris", ein Paracelsistischer Traktat, entstanden um 1580. Obwohl der Buchdruck zur Entstehungszeit bereits der übliche Weg der Textproduktion war, ließen immer noch zahlreiche wohlsituierte Leute Handschriften anfertigen. In diesem Fall behandelt das Werk außerdem eine Geheimwissenschaft, die nicht zur massenhaften Verbreitung gedacht war. Die Miniaturen sind aufwendig gestaltet und mehr als bloße Dekoration.

    Handschriften aus Klöstern
    Wie in den genannten Beispielen spiegelt sich in der Geschichte der Schriften die Geschichte der Zeit, in der sie entstanden sind. Die Orte, an denen diese Handschriften reproduziert, also abgeschrieben wurden, waren fast ausschließlich Klöster, Zentren des geistlichen wie geistigen Lebens. In Eigeninitiative oder als Auftragsarbeit wurden die kunstvollen Handschriften hergestellt. Letztere waren meist die aufwendigeren Werke, denn ihnen kam ein stark repräsentativer Wert zu, waren es doch oft Geschenke oder Mitgiften, die unter Fürsten und Königen weitergereicht wurden. So gelangte das wertvolle Buch der Kaiserin Kunigunde wie auch zahlreiche andere Bücher erst in den Besitz der Kasseler Bibliothek, als der Landgraf Phillip 1527 die Aufhebung der hessischen Klöster verfügte. Eine politische Entscheidung, die den angenehmen Nebeneffekt hatte, daß die Landesbibliotheken um etliche wertvolle Stücke reicher wurden. Ähnlich verlief die Geschichte des Hildebrandliedes, das, wie oben schon er-wähnt, 1632 aus der berühmten Klosterbibliothek Fulda seinen Weg nach Kassel fand.
    Doch nicht nur Handschriften sind Objekte der Ausstellung in der Murhardschen Bibliothek.
    Bald nach 1450 setzte der Buchdruck mit beweglichen Lettern ein, ein Fortschritt, der die massenhafte Verbreitung von jeder Art Literatur ermöglichte und gleichzeitig die Handschrift als Multiplikator ablöste.
    Aber was für die handschriftliche Literatur galt, behielt auch in den Anfängen des Buchdruckes seine Gültigkeit: Die Produktion von Schriften beschränkte sich zunächst auf naheliegendes wie zum Beispiel die Bibel, war doch die Herstellung noch weit entfernt von einer Automatisierung. Ein sehr frühes Exemplar des jungen Druckverfahrens ist in der Kasseler Ausstellung ausgelegt, eine Gutenbergbibel von ca. 1454, von der etwa 35 Exemplare auf Pergament und 165 auf Papier gedruckt worden sind. Besonders interessant ist die Aufmachung des ausgestellten Exemplars. Hier läßt sich auch für den Laien deutlich erkennen, daß die verwendeten Druckbuchstaben noch stark an die bis dahin gebräuchlichen Handschriften angelehnt sind, quasi eine Nachahmung von Handschriften darstellen. Farbige Initialen in den Texten wurden weiterhin von Hand angefertigt. Die Bibel hat einen Holzdeckeleinband, in den eine Metallöse am unteren Rand eingelassen ist: Diebstahlschutz im Mittelalter betrieb man durch Festketten der schweren Bücher am Lesepult.
    Mit der Fortentwicklung des Buchdruckes nahm auch ein aus heutiger Sicht tragisches Schicksal seinen Lauf:
    Aus historischem Unverständnis wurden zahlreiche Handschriften als Druckpapier verwendet, da Pergament immer noch äußerst wertvoll war. Diese Makulatur ist ein weiterer Grund, warum die uns heute noch erhaltenen Handschriften oft Seltenheitswert haben und nur noch Einzelexemplare darstellen.
    Doch glücklicherweise wurde nicht mit allen Schriften so fahrlässig umgegangen, obwohl man erst im 19. Jahrhundert ein tieferes Gespür für die literarischen und histori schen Kostbarkeiten entwickelte. So waren es wieder einmal die Brüder Grimm, ihres Zeichens Bibliothekare in Kassel, die sich den Schriften von wissenschaftlicher Seite näherten und im Jahr 1812 das Hildebrandlied faksimilisierten.
    Aber nicht nur der Mangel an Wertschätzung stellte eine Gefahr für die Handschriften dar, auch in der Moderne war die Sicherheit der Dokumente nicht garantiert.

    Viele Handschriften im Krieg vernichtet
    Im September 1941, noch vor dem großen Bombenangriff von 1943, wurde ein Großteil dessen, was Jahrhunderte an Schätzen angehäuft hatten, in einem Bombenangriff beschädigt oder vernichtet. Zum Schutz der Handschriften veranlaßte man schließlich die Auslagerung an "sichere" Orte, unter anderen nach Bad Wildungen oder in Salzstöcke in Thüringen. Doch auch wenn jetzt die Gefahr der Zerstörung durch Bombenangriffe gebannt war, sicher waren die Schriften keineswegs. Als begehrte Kriegsbeute verschwanden die Handschriften in das alliierte Ausland und sind teilweise immer noch verloren. Einige Stücke tauchten jedoch in den USA auf. So zum Beispiel das Hildebrandlied, von dem zunächst nur die Handschrift selbst mit dem Schluß des Liedes in New York auftauchte und man das erste Blatt als verschollen glaubte. Doch eindringliche Nachforschungen beförderten auch dieses Blatt ans Tageslicht, welches schließlich 1972 nach Kassel zurückgeführt werden konnte.
    Heute sind einige der kostbarsten oder literarisch interessantesten Stücke der Öffentlichkeit in dem 1978 eingerichteten Ausstellungstresor zugänglich. Ein lohnender Besuch, versucht die Ausstellung doch, die Handschriften möglichst vielseitig in ihrem mittelalterlichen Wissenschaftsschema, Entwicklung der Schrift und der örtlichen Bibliotheksgeschichte zugänglich und interessant darzustellen. Neben Informationen zu den Exponaten - zu Geschichte, Form und Inhalt - ist auch der historische Kontext der jeweiligen Handschrift in die Beschreibungen einbezogen. Und aus aktuellem Anlaß zusätzlich ausgestellt: Das Kasseler Original der Paulskirchenverfassung.
    Vor Ort liegt ein Band aus, der ausführlicher und weitergehender durch die Ausstellung führt. Der Band, der großzügig bebildert ist, kann erworben werden. Verfaßt und zusammengestellt wurde er von Dr. Hartmut Broszinski, herausgegeben wurde er vom Präsidenten der Universität Gesamthochschule Kassel. Zu beziehen ist der Band zum Preis von 30,- DM am Ausstellungsort und bei der Pressestelle der Ghk (Tel. 0561/804 -2216, Fax. -7216)

    Nikolas Neuner/p.

    Kontakt und weitere Information:
    Gesamthochschul-Bibliothek
    Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel
    Brüder-Grimm-Platz 4a
    Öffnungszeiten:
    Mo, Mi und Fr. 14-17 Uhr
    Führungen nach Absprache mit dem Leiter der Handschriftenabteilung
    Dr. Konrad Wiedemann, Tel.: 0561/804 - 7340


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Sprache / Literatur
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

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