Oldenburg. Am Anfang des organisierten Kinderschutzes, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den USA ausgehend sich weltweit ausbreitete, stand keinesfalls das Wohl mißhandelter Kinder. Vielmehr instrumentalisierten die Initiatoren, ein populärer Tierschützer und ein gewiefter Anwalt, das Leid von Kindern für politische Zwecke. Mit Hilfe der Kinderschutzgesellschaft erweiterten sie und ihre Verbündeten die moralische Kontrolle der Unterschicht durch die Oberschicht. Zu diesem Ergebnis gelangt die Oldenburger Erziehungswissenschaftlerin Dr. Anja Eckhardt in ihrer Doktorarbeit, deren Hauptthesen sie in der neuesten Ausgabe des Forschungsmagazins EINBLICKE der Universität Oldenburg darstellt ("Der Fall Mary Ellen", EINBLICKE Nr. 28, S. 10-12).
Die Entstehungsgeschichte des Kinderschutzes schien seit langem geschrieben. Auslöser soll der Fall Mary Ellen gewesen sein: Demnach mißhandelten im Jahr 1874 in der Stadt New York Pflegeeltern ihr Kind mit der Peitsche. Das verletzte und halb verhungerte Mädchen konnte angeblich nur gerettet werden, indem es zum Tier erklärt wurde und somit Tierschutzgesetze ihre Anwendung fanden - über Kinderschutzgesetze verfügten die Retter damals noch nicht. Der Prozeß entfachte eine große öffentliche Empörung und es wurde die weltweit erste Kinderschutzorganisation gegründet.
Diese Geschichte müsse jedoch umgeschrieben werden, so Anja Eckhardt. Zu Beginn der Forschungen mißtrauisch geworden durch zahlreiche Widersprüche in der Darstellung des Ereignisses, rekonstruierte die Pädagogin den Fall anhand von Aktenmaterial, Augenzeugenberichten und der damaligen Presseberichterstattung in den Archiven der Harvard-Universität. Das Ergebnis überraschte, denn die Legende wurde Stück für Stück entlarvt und bis in ihre Wurzel zurückverfolgt. Angeblich wurden beide Eltern verurteilt - ein Aspekt der Legende, wie sich nun herausstellte. Tatsächlich wurde nur die Pflegemutter zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Ein weiterer Aspekt der Legende: Im Gerichtssaal wurde spontan die erste Organisation für den Schutz von Kindern vor körperlicher Gewalt gegründet. In Wirklichkeit verlief die Gründung keinswegs spontan, sondern war von langer Hand vorbereitet.
Eckhardt fand überdies heraus, daß sich der Mythos um den Fall Mary Ellen nicht erst im Laufe der Jahrzehnte formte, sondern die Akteure ihn gezielt bereits im Jahr 1874 in die Welt setzten. Diese Retter des Kindes gingen dabei keineswegs selbstlos vor, sondern nutzten den Fall für ihre politischen Zwecke. Auch das Leid Mary Ellens wurde gezielt eingesetzt, um die Öffentlichkeit zu rühren und auf die Absichten der Akteure einzustimmen. Es ging ihnen, so Eckhardt, um "Macht und Einfluß". Das Herz seiner Retter, wie es bis heute in der Legende noch heißt, rührte das Leid des Kindes dagegen nur wenig.
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Kontakt: Dr. Anja Eckhardt, Tel./Fax: 0531/73020.
Bezug des EINBLICKE-Artikels:
Pressestelle, Tel. 0441/9706-446, Fax -545,
oder im Internet: www.admin.uni-oldenburg.de/presse/einblick/
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Pressestelle, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Pressemitteilung 317/98
verantw.: Wolf Hertlein
Tel.: 0441/9706-539, Fax: 0441/9706-545
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Politik, Psychologie, Recht
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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