Mit Hochdruck wird derzeit an dem Ausstiegskonzept aus dem Maßnahmenpaket zur sozialen Distanz gearbeitet. Alte und chronisch kranke Menschen sollen weiterhin zu Hause bleiben. Das EbM-Netzwerk fordert nachdrücklich eine Politik-unabhängige, prospektiv geplante Begleitforschung der Implikationen der verordneten Maßnahmen.
Bundesminister Spahn kündigt jetzt an, bis Ostern ein Ausstiegskonzept aus den umfangreichen Maßnahmen zur sozialen Distanz, Beschränkung der Kontakte und des gesellschaftlichen Lebens vorzulegen. Die alten und chronisch kranken Menschen müssten weiterhin die Kontakte einschränken und zu Hause bleiben. Distanz und Isolation also für eine Bevölkerungsgruppe mit erhöhtem Sterberisiko. In Anbetracht der schwachen oder fehlenden Evidenz letztlich ein nationenweites unkontrolliertes Experiment. Eine Evaluierung der Effekte der Maßnahmen sei nicht geplant, dazu sei der Handlungsdruck zu groß.
Das QUEST Center (Quality, Ethics, Open Science, Translation) fordert zusammen mit dem EbM-Netzwerk und der Akademie für Ethik in der Medizin, die Wirkungen und unerwünschten gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Kollateraleffekte der ergriffenen Maßnahmen zu untersuchen. Keinesfalls darf jetzt der Eindruck entstehen, dass es mit der umfangreichen BMBF-Förderung eines Forschungsnetzwerks der deutschen Universitätsmedizin getan ist. Dieses soll die Forschungsaktivitäten in der Universitätsmedizin zur Bewältigung der aktuellen Pandemie-Krise bündeln. Die Covid-19 Pandemie ist bei Weitem nicht nur ein Problem der medizinischen Grundlagenforschung, klinischer Therapiestudien und intensivmedizinischer Verfahrensweisen. Dringlich sind ebenso Fragen der Versorgungsforschung, Pflegewissenschaft und Public Health.
Ganz real bedrohliche Zustände zeichnen sich zum Beispiel in den Settings jenseits der Universitätsmedizin ab, wo mehrheitlich alte und gebrechliche Menschen begleitet werden: In der hausärztlichen Versorgung, der ambulanten professionellen und familialen Pflege und in den Heimen.
Unsere Pflegeheime haben sich inzwischen mehrheitlich zur Außenwelt verschlossen. Die Bewohner*innen können keinen Besuch mehr von Angehörigen und Freund*innen empfangen, da diese als Überträger fungieren könnten. Das Personal jedoch ist täglich zugehend und so erscheint das Pflegeheim als der perfekte Inkubator für die Verbreitung der Infektion. Von den Pflegenden geht vermutlich eine ungleich große Gefahr für Übertragung aus, denn sie stehen im körpernahen Kontakt mit vielen Menschen. Derweilen wird der eklatante Mangel in der Ausstattung mit Hygieneartikeln und Desinfektionsmitteln beklagt. Eine Umsetzung der vom Robert Koch Institut empfohlenen Schutzmaßnahmen ist so nicht möglich. Diese Klagen werden auch in der ambulanten Pflege erhoben, in der die Mehrzahl der Pflegebedürftigen in Deutschland begleitet werden. Neben dem erhöhten Infektionsrisiko dieser vulnerablen Gruppe, die ja nun gerade besonders geschützt werden soll, sind die psychosozialen Folgen der Kontaktbeschränkung unvorhersehbar. Es ist fahrlässig, dies alles nicht systematisch begleitend dokumentieren zu wollen, um später Rückschlüsse daraus ziehen zu können. In den Heimen sind derweilen die Qualitätsprüfungen des MDK ausgesetzt und Dokumentationspflichten wurden gelockert.
Andere soziale Notlagen wie die Engpässe in der häuslichen Begleitung von Pflegebedürftigen durch ausländische Betreuer*innen zeichnen sich ab. Geschlossene Grenzen, Quarantäne und Furcht wird viele der in geschätzt 300.000 deutschen Haushalten lebenden Betreuer*innen abhalten, die alten und pflegebedürftigen Menschen weiter zu begleiten. Es ist fahrlässig, eine systematische Dokumentation des Zusammenbruchs dieses sozialen Arrangements zu unterlassen.
Benötigt wird eine Politik-unabhängige, prospektiv geplante Protokoll-gestützte Begleitforschung der Implikationen der verordneten Maßnahmen.
Schon jetzt aber sollten Wissenschaftler*innen, die sowieso gerade empirische Studien in Pflegesettings durchführen, ihre Protokolle anpassen und Prozessdaten zum Covid-19 Geschehen erheben.
Und natürlich können und müssen in dieser Situation Modelle entwickelt und erprobt werden, die die älteren und vulnerablen Gruppen schützen könnten, ohne den Zugang zu ihren Angehörigen und Vertrauten zu beschneiden und sie dem Risiko ständig wechselnder und schlecht geschützter Pflegender auszusetzen. So viel Zeit muss sein!
Am Ende der Pandemie muss eine sorgfältige Analyse der Auswirkungen der Maßnahmen und ein vertieftes Verständnis ihres Nutzens und Schadens stehen.
Gabriele Meyer, Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Magdeburger Straße 8, 06112 Halle (Saale)
E-Mail: gabriele.meyer@medizin.uni-halle.de
https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-20200327-covid19-begl... - Vollständige Stellungnahme mit Referenzen
Merkmale dieser Pressemitteilung:
jedermann
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Politik
überregional
Wissenschaftspolitik
Deutsch
Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.
Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).
Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.
Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).
Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).