Aufgrund der derzeitigen Ausgangsbeschränkungen befürchten Politik, Opfer- und Kinder-schutzverbände eine starke Zunahme von häuslicher Gewalt. Prof. Dr. Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut erklärt, welche Ursachen dahinterstecken, wo sich Opfer Hilfe holen können und warum eine starke Soziale Arbeit systemrelevant ist.
In der öffentlichen Diskussion ist das Thema häusliche Gewalt derzeit sehr präsent: Die Gene-ralsekretärin des Europarates Pejcinovic Buric macht darauf aufmerksam, dass Berichten der Mitgliedsländer zufolge Kinder und Frauen derzeit einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt seien. Grönland führt aus Sorge vor Gewalt gegen Kinder ein vorübergehendes Alkoholverbot für die Hauptstadt Nuuk ein. Und die deutsche Kinderschutzstiftung Hänsel + Gretel betont, dass wir in der jetzigen Coronazeit besonders auf Kinderleben achten und Kinder schützen müssen. Wie das konkret aussehen kann, erklärt Prof. Dr. Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut. Sie ist Expertin im Bereich Pädagogik, Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie Kinderschutz und leitet an der Hochschule die beiden Forschungsprojekte Foster-Care und SchutzNorm.
Frau Prof. Wolff, das Thema häusliche Gewalt erfährt in der öffentlichen Diskussion derzeit eine erhöhte Brisanz. Gibt es statistisch gesehen eine tatsächliche Zunahme von Missbrauchsfällen?
Prof. Wolff: Es gibt keine empirisch verlässlichen Zahlen über einen Anstieg an Partnergewalt oder Gewalt an Kindern in Familien, die sich nur auf die letzten Wochen beziehen. Das wäre auch unrealistisch. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verweist derzeit auf einen Anstieg von 21 Prozent des Elterntelefons „Nummer gegen Kummer“. Die Chat-Beratung für Kinder und Jugendliche hat sich um 26 Prozent erhöht. Das sind einige alarmierende Anzeichen.
Aber wir müssen bedenken, dass häusliche Gewalt auch vor der Corona-Krise bereits ein massives Problem darstellte. 16-mal pro Stunde wird in Deutschland ein Mensch Opfer von Partnerschaftsgewalt, davon sind in 81 Prozent der Fälle Frauen die Opfer. Fast 15.000 Kindern widerfährt in Deutschland jährlich sexuelle Gewalt, ca. 140 Kinder werden im Jahr getötet und in 38.891 Fällen haben Jugendämter Kinder in Obhut genommen aufgrund von dringender Kindesmisshandlung oder auf Bitte des Kindes.
Was sind die Ursachen?
Prof. Wolff: Wir wissen, dass häusliche Gewalt dann ansteigt, wenn sich Risikofaktoren in Familien verschärfen, z. B. durch finanzielle Existenzsorgen, beengten Wohnraum, Erziehungsprobleme und psychischen Stress. Haben Familien wenig Ressourcen oder Unterstützung, um solche Krisen zu bewältigen, erhöht sich das Risiko für mögliche Gewalt – Partnergewalt und/oder Gewalt gegen Kinder. Derzeit sind die Fachkräfte in Frauenhäusern und der Jugendhilfe besonders herausgefordert, weil Einrichtungen teilweise schließen müssen, weil sie Existenzsorgen haben und gleichzeitig kreative Notlösungen für Menschen in Not finden: durch Hotelunterbringungen in eskalierten Situationen, zusätzliche Online-Beratung, Chat-Möglichkeiten für Kinder mit Fachkräften und Ehrenamtlichen, etc.
Gibt es Personengruppen, die besonders gefährdet sind?
Prof. Wolff: Viele Menschen zahlen derzeit einen hohen Preis für diese Corona-Krise: Es sind potentiell alle Frauen, denn sie tragen im Moment die meiste Last in den Familien. An ihnen oder den Kindern entlädt sich auch oft Stress in der Familie und Überforderung. Es sind zudem Alleinerziehende, benachteiligte Familien mit wenig Einkommen. Neben diesen Gruppen müssen wir derzeit auch besonders achtgeben auf alte und psychisch kranke Menschen, Menschen ohne festen Wohnraum, Menschen mit Fluchterfahrungen. Das Bittere ist, dass die Corona-Krise die Menschen am härtesten trifft, die auch vorher schon benachteiligt waren und zu „vulnerablen“ Personengruppen gehörten.
Der Opferhilfeverein Weißer Ring ruft zu Achtsamkeit auf, wenn die Lage in der Wohnung nebenan eskaliert.
Prof. Wolff: Grundsätzlich ist es eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, Gewalt in Familien frühzeitig zu erkennen und immer einzuschreiten, wenn Menschen in Not sind. Es geht darum, Haltung zu zeigen und deutlich zu machen, dass Gewalt nie eine Lösung ist und dass man sich immer Hilfe holen kann. Wir müssen allerdings aufpassen, kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Familien mit Kindern aufzubauen und einen Generalverdacht gegen Eltern oder Männer zu hegen. Das wäre falsch verstandener Kinder- und Gewaltschutz.
Wie können Nachbarn Hilfestellung geben?
Prof. Wolff: Hoch belastete Familien benötigen derzeit zunächst konkrete finanzielle Hilfe, um existentielle Sorgen zu lindern. Nachbarschaftlich kann man zusätzlich mithelfen durch Ansprache, Zuversicht und emotionalen Halt, z. B. indem man im Gespräch bleibt und im Bedarfsfall Unterstützung und Entlastung anbietet. Das können ganz konkrete Alltagshilfen sein: einkaufen, Essen kochen, Gespräche mit den Kindern, Spiele ausleihen etc. Wenn man ein komisches Bauchgefühl hat, dass Gewalt im Spiel sein könnte, sollte man motivieren und Hinweise geben, wo sich Frauen, Eltern und Kinder professionellen spezifischen Rat holen können.
Welche konkreten Angebote gibt es, auf die ich verweisen kann?
Prof. Wolff: Wenn ich Partnergewalt mitbekomme oder eine Kindeswohlgefährdung vermute, kann ich auf die „Nummer gegen Kummer“ 0800 111 0550 hinweisen, auf das bundesweite und 24 Stunden erreichbare Hilfetelefon gegen Gewalt an Frauen 08000 116 016 oder auf die Beratungsseiten der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Dort gibt es Angebote wie Mailberatung, Gruppen- und Themenchats, offene Sprechstunden und Foren: www.bke-jugendberatung.de und www.bke-elternberatung.de. Ich kann auch auf das örtliche Frauenhaus (Frauenhaus Landshut: 0871-805100) oder auf örtliche spezialisierte Beratungsstellen verweisen. (Die Landshuter Interventions- und Beratungsstelle bei häuslicher und sexualisierter Gewalt bietet z.B. in der Corona-Krise eine Online-Beratung an unter beratung.lis@protonmail.com). Wenn man sich ganz sicher ist, dass akute Gewalt im Spiel ist, ist es eine Bürgerpflicht das örtliche Jugendamt oder die Polizei zu informieren. Derzeit arbeiten Fachkräfte in Jugendhilfeeinrichtungen auf Hochtouren an zusätzlichen Formen, um Familien niederschwellige Hilfen zu ermöglichen.
Was können Kitas, Heime, Schulen oder sonstige Wohngruppe für junge Menschen jetzt in der Corona-Krise tun, um Kinder zu schützen?
Prof. Wolff: Es gibt bereits viele gute Beispiele, wie Erzieherinnen und Erzieher sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen über Chats, Online-Foren, Skype oder WhatsApp-Gruppen mit Kindern und ihren Eltern im Gespräch bleiben. Sie können als Profis wichtige pädagogische und didaktische Hinweise geben, so dass nicht aufgrund von Langeweile Aggressionen aufgebaut werden. Gerade jetzt sind Patenmodelle gefragt, die vielerorts existieren. Sie stellen Eltern und Kindern vertraute Bezugspersonen von außen zur Seite und motivieren sie bei Stress, sich anzuvertrauen und sich nicht zu isolieren. Kindern und Eltern muss Halt gegeben werden. Sie brauchen die Zuversicht, dass die Corona-Krise auch ein Ende hat. Es gibt inzwischen unzählige Anregungen im Internet, wie sich Kinder auch selbsttätig mit Fragen oder Themen auseinandersetzen oder einfach Spaß haben können (z.B. https://www.br.de/radio/bayern-plus/service-zur-kinderetreuung-in-corona-zeiten-...).
Brauchen wir neue Schutzkonzepte in Zeiten von Corona?
Prof. Wolff: Soziale Einrichtungen haben jetzt nach einem hohen politischen Druck die Zusage bekommen, dass auch ihre Existenz unter dem Corona-Schutzschirm abgesichert wird. Soziale Einrichtungen sind systemrelevant, weil sie die soziale Infrastruktur in unserer Gesellschaft sicherstellen. Das ist existentiell wichtig. Vor allem in den Jahren nach 2015 und der Flüchtlingswelle haben die Fachkräfte in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe unter Beweis gestellt, dass sie unter Hochdruck schnell und kreativ gute Lösungen entwickeln können. Der Kinderschutz sowie die Hilfseinrichtungen für Frauen nach Gewalt in der Familie arbeiten zuverlässig, wenn sie gut abgesichert sind und gesellschaftlich wertgeschätzt werden. Wir brauchen darum keine neuen Schutzkonzepte oder Einschränkungen in der Corona-Krise, sondern wir brauchen eine gut abgesicherte Soziale Arbeit und ein Gemeinwesen, das zivilgesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Jeder ist gefragt hinzuschauen und Haltung zu zeigen. Vor allem müssen die guten Beispiele in der Praxis, von denen einige oben genannt wurden und die auf allen Kanälen weiterentwickelt werden, sichtbar und zum Modellfall für andere werden.
Das Interview führte Veronika Barnerßoi von der Hochschule Landshut.
Prof. Dr. Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut ist Expertin im Bereich Pädagogik, Kinder-, Ju ...
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler
Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungs- / Wissenstransfer
Deutsch
Prof. Dr. Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut ist Expertin im Bereich Pädagogik, Kinder-, Ju ...
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