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07.04.2020 13:23

Das Stigma der Arbeitslosigkeit

Kristian Lozina Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

    Sind Arbeitslose faule Schmarotzer? Zumindest entwickeln viele durch solche Vorurteile ein Stigmabewusstsein. Eine Untersuchung der Unis Würzburg, Hannover und dem DZHW zu diesem Thema zeigt nun überraschende Ergebnisse.

    Denken meine Freunde, dass ich faul bin? Dass ich Vater Staat ausnutze? Oder glauben sie, dass ich meine Familie nicht allein versorgen kann? Für viele Arbeitslose sind solche Gedanken nicht fremd. Sie entwickeln aufgrund ihrer beruflichen Situation ein solches Stigmabewusstsein. Doch welche Faktoren beeinflussen dieses Bewusstsein? Und wer empfindet dieses Stigma besonders stark?

    Christiane Gross, Professorin für quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg, und Sebastian Lang vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und der Leibniz Universität Hannover (LUH) haben hierzu Daten der Panelbefragung Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS) analysiert.

    Negative Effekte für Betroffene

    Doch was genau wird unter Stigmabewusstsein verstanden? Es beschreibt die empfundene Wahrscheinlichkeit, von negativen Vorurteilen betroffen zu sein. „Dabei wird stark auf die Reaktion des eigenen sozialen Umfelds geachtet“, erklärt Gross.

    Die bisherige Forschung zeigt, dass dieses Bewusstsein mehrere negative Effekte hat: Die Betroffenen bekommen eine negative Selbstwahrnehmung, sie bewerten Situationen anders, ihre Leistungen verschlechtern sich und aufgrund ihrer Scham isolieren sie sich häufiger. Für die Suche nach einem neuen Job sind solche Faktoren wenig hilfreich.

    Unterschiede zwischen Männern und Frauen

    Vor allem die Unterschiede zwischen Männern und Frauen haben Gross überrascht: „Entgegen der theoretischen Annahme konnten wir herausfinden, dass arbeitslose Frauen ein höheres Stigmabewusstsein haben als arbeitslose Männer. Dieser Befund ist insofern überraschend, als arbeitslose Männer mit den immer noch weitverbreiteten Rollenerwartungen des Familienernährers konfrontiert sind“, erklärt die Soziologin. „Wir erklären uns den überraschenden Befund so, dass Frauen eher dazu neigen, Misserfolge sich selbst zuzuschreiben, währenddessen Männer tendenziell eher dazu neigen, Misserfolge zu externalisieren“, so Gross. Das heißt, Männer suchen die Ursache von Misserfolgen eher bei anderen oder in äußeren Umständen.

    Bei Frauen sinkt das Stigmabewusstsein, wenn sie sich um ein Kind kümmern müssen. „Das gilt zumindest für Kinder zwischen vier und neun Jahren“, sagt Gross. Bei Männern sinkt es, wenn sie viele Freunde und ein großes familiales Umfeld haben, also sozial gut integriert sind.

    Vor allem bei Männern verstärkt sich das Stigmabewusstsein jedoch enorm, wenn sie von staatlicher Seite zur Arbeitssuche verpflichtet werden und wenn sie wiederholt in Arbeitslosigkeit geraten. Für Männer und Frauen gilt zudem gleichermaßen: Je länger die Arbeitslosigkeit anhält und je stärker die Betroffenen ihren finanziellen Mangel einschätzen, desto stärker wird das eigene Stigmabewusstsein.

    Was kann die Politik tun?

    Vor allem die Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit und wiederholender Arbeitslosigkeit sei für Gross ein entscheidender Faktor, um die negativen Auswirkungen des Stigmas zu vermeiden. „Auch die stigmatisierende Wirkung der Suchverpflichtung sollte abgemildert werden“, erklärt die Sozialforscherin. Es gehe dabei aber nicht zwangsläufig um eine Abschaffung der Verpflichtung. „Vielleicht würde schon eine sensiblere Form der Kommunikation ausreichen, um das Stigmabewusstsein der Betroffenen abzumildern“, so die Expertin.

    „Außerdem kann die Frage gestellt werden, ob die aktuellen ALG-II-Leistungen effektiv vor materieller Unsicherheit schützen und somit nicht das Stigmabewusstsein weiter fördern. Eine Reform wäre nicht unbedingt teurer als die Kosten von Langzeitarbeitslosigkeit“, vermutet Gross.

    Sozialforschung in Würzburg

    Publiziert wurden die neuen Erkenntnisse in der Zeitschrift für Soziologie, gefördert wurde die Arbeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Gross hat zudem die Vorurteile von Erwerbstätigen gegenüber Arbeitslosen gemeinsam mit Monika Jungbauer-Gans, Sebastian Lang (beide DZHW und LUH) sowie Thomas Gurr (ehemals LUH) untersucht. Die Ergebnisse werden demnächst publiziert.

    Christiane Gross ist seit 2017 Professorin an der Universität Würzburg. In ihrer Forschung konzentriert sie sich auf soziale Ungleichheit – vor allem mit den Schwerpunkten Bildung, Arbeit und Gesundheit. Gross: „Es ist wichtig die sozialen Mechanismen zu verstehen, die Chancenungleichheit befördern. Wenn man bedenkt, wie zum Beispiel Bildung und Arbeit die Gesundheit und damit auch die Lebenserwartung von Menschen beeinflusst, dann sieht man, wie zentral diese drei Dimensionen für ungleiche Lebenschancen sind.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Christiane Gross, Lehrstuhl für Methoden der quantitativen empirischen Sozialforschung, Universität Würzburg, T +49 931 31 – 89418, christiane.gross@uni-wuerzburg.de


    Originalpublikation:

    Lang, Sebastian; Gross, Christiane: Einflussfaktoren auf das Stigmabewusstsein Arbeitsloser. Zeitschrift für Soziologie 48, 2019: S. 243–262.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Gesellschaft, Politik
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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