Bielefeld/Berlin. Pflege- und Gesundheitsberufe erfahren durch die Corona-Krise eine längst fällige Aufmerksamkeit. So liegt in der Krise auch eine Chance, die Geschlechterklischees in der Berufswahl weiter aufzubrechen. Denn noch immer wählen Jungen deutlich seltener als Mädchen eine Ausbildung in Pflege, Gesundheit, Erziehung oder Dienstleistung. Wenn sie es aber tun, bereuen sie es nicht. Im Gegenteil, sie sind hochzufrieden.
Eine Sonderauswertung des Ausbildungsreports 2019 des Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V. zeigt, dass junge Männer, die sich für eine Ausbildung in weiblich dominierten Berufen entscheiden, diese im Vergleich zu ihren weiblichen Mitauszubildenden positiver bewerten. Auch die jungen Frauen in männlich dominierten Ausbildungsberufen kommen überdurchschnittlich gut zurecht. Aber die Ergebnisse zeigen auch: Auszubildende in weiblich dominierten Ausbildungsberufen sind gegenüber den Auszubildenden in männlich dominierten Ausbildungsberufen strukturell schlechter gestellt.
Ausbildung nach Neigung und Interesse wählen
Mädchen und Jungen, die ihre Ausbildung nach ihren Neigungen und Interessen wählen und dabei zu der Entscheidung kommen einen Beruf zu wählen, in dem überwiegend Frauen oder Männer tätig sind, beurteilen ihre Ausbildungserfahrungen insgesamt positiver als ihre Mitauszubildenden: Junge Frauen in Ausbildungen, die vorwiegend von jungen Männern gewählt werden, sind zu 78 Prozent zufrieden oder sehr zufrieden. Junge Männer in diesem Ausbildungssegment zu 73 Prozent. In weiblich dominierten Ausbildungen zeigt sich ein ähnliches Bild. Hier sind junge Männer zu 69 Prozent zufrieden oder sehr zufrieden, junge Frauen nur zu 62 Prozent.
„Uns bestärken die Ergebnisse der Sonderauswertung, dass wir mit dem Girls’Day und Boys’Day die richtigen Wege gehen. Wir schaffen mit den Aktionstagen Erfahrungsräume für junge Menschen aber auch für die Unternehmen und Institutionen. So setzen wir neue Impulse, damit Talente und Interessen der jungen Menschen ihre Berufs- und Lebenswegentscheidung bestimmen – nicht ihr Geschlecht“, sagt Sabine Mellies. Sie ist Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V., bei dem die Bundeskoordinierungsstellen Girls’Day – Mädchen-Zukunftstag und Boys’Day – Jungen-Zukunftstag sowie die Fachstelle der Servicestelle der Initiative Klischeefrei angesiedelt sind.
Die Aussichten auf eine Übernahme nach der Ausbildung für junge Frauen und Männer zum Zeitpunkt der Befragung in männlich dominierten Ausbildungen sind annähernd gleich: 42 Prozent der Frauen und 41 Prozent der Männer haben in dieser Hinsicht bereits eine Zusicherung. Jungen Männern wird in weiblich dominierten Ausbildungsberufen sogar noch häufiger als ihren weiblichen Mitauszubildenden eine Übernahme im Anschluss zugesichert (39 im Vergleich zu 30 Prozent).
Ausbildungsbedingungen, die benachteiligen
Gleichwohl verweisen die Ergebnisse auch auf kritische Aspekte, besonders in weiblich dominierten Ausbildungen. Es sind vor allem die Ausbildungsbedingungen, die Auszubildende in diesen Berufsbereichen benachteiligen: Sie arbeiten mehr, profitieren seltener von einem Überstundenausgleich und erhalten eine deutlich geringere Vergütung. Entsprechend fühlen sich diese Auszubildenden unabhängig vom Geschlecht viel häufiger überfordert und haben häufiger Probleme, sich in ihrer Freizeit zu erholen. Dies führt letztendlich dazu, dass ein Fünftel der jungen Männer und 16 Prozent der jungen Frauen in weiblich dominierten Ausbildungen nicht im erlernten Beruf tätig sein möchten. In männlich dominierten Ausbildungsberufen sind dies nur 11 Prozent der weiblichen und 12 Prozent der männlichen Auszubildenden.
Mehr Wertschätzung
„Weiblich dominierte Berufe, zu denen auch die Berufe im Pflege- und Gesundheitswesen gehören, benötigen dringend mehr Wertschätzung. Das muss bereits in der Ausbildung beginnen“, fordert Manuela Conte, Bundesjugendsekretärin des DGB. „Wenn die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen so schlecht sind, dass die jungen Menschen nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten wollen, hat das fatale Auswirkungen für das Gesundheitssystem und unsere gesamte Gesellschaft.“
Dafür stehen die Zeichen nicht schlecht. Die Krise zeigt, dass sich im Gesundheits- und Pflegebereich etwas ändern muss: Die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen in weiblich dominierten Berufen und auch deren Vergütung müssen sich verbessern, damit diese Bereiche auch für junge Menschen attraktiver werden. Ein erster positiver Trend ist zu erkennen – seit dem ersten Boys’Day 2010 sind die Zahlen der Neuabschlüsse von Männern in der Altenpflege kontinuierlich gestiegen. Im Schuljahr 2010/11 entschieden sich 4.760 junge Männer für eine schulische Ausbildung in der Altenpflege, 2018/19 waren es 6.474 – damit ist ihr Anteil von 21,8 auf 26,6 Prozent gestiegen. Und: Das Schulgeld für eine schulische Ausbildung in diesem Bereich wurde Anfang des Jahres abgeschafft.
Lore Funk
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