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30.04.2020 09:35

Die Netzhaut sorgt nicht nur für scharfes, sondern auch für stabiles Sehen

Silke Dutz Pressestelle
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)

    Tübinger Forscher zeigen erstmals, dass die Millisekunden lange Blindheit bei der schnellen Bewegung der Augen, die flimmerfreies Sehen erlaubt, von der Netzhaut selbst ausgeht.

    Wer schon einmal ein Video aufgenommen hat, weiß, dass man die Ka-mera ruhig halten muss, damit die Bildsequenzen nicht verwackeln. Wäh-rend des natürlichen Sehvorgangs nehmen wir dagegen immer ein stabi-les Bild wahr, obwohl sich die Augen bei der Suche nach neuen Eindrü-cken ständig hin und her bewegen und dabei ein verwackeltes Bild auf die Netzhaut werfen. Weil das Sehen aber während dieser kurzen Au-genbewegungen für Millisekunden unterdrückt ist, wird diese Unstetigkeit nicht wahrgenommen. Die Tübinger Neurowissenschaftler Professor Ziad M. Hafed und Dr. Thomas Münch haben gemeinsam mit ihren Teams untersucht, wie die Bildstabilisierung gesteuert wird. Sie stellten fest, dass das Signal für die kurzen Sehunterdrückungen direkt von der Netzhaut und deren neuronaler Aktivität ausgeht. Ihre Studie ist in der Fachzeitschrift Nature Communications erschienen. Hafed leitet die Ar-beitsgruppe „Aktive Wahrnehmung“ am Hertie-Institut für klinischen Hirn-forschung (HIH), ist Forschungsgruppenleiter am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tü-bingen und Professor an der Medizinischen Fakultät. Münch ist Grup-penleiter am Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tü-bingen und am CIN.

    Damit ist erstmals eine stimmige Erklärung für das Phänomen der sak-kadischen Unterdrückung gefunden worden. Sakkade ist der Begriff für die schnelle Bewegung der Augen. Bislang gab es zwei konkurrierende Hypothesen. Nach der ersten Hypothese sollte die Unterdrückung von den Motorsignalen ausgehen, die auch die Bewegung der Augen auslö-sen. Nach der zweiten Hypothese sollte die Unterdrückung rein visuell bedingt sein und von der Bildfolge auf der Netzhaut verursacht werden – was dann bedeuten würde, dass sich die verwackelten Bilder selbst kor-rigieren. Die Ergebnisse der Tübinger Forscher zeigen, dass die zweite Hypothese richtig ist, dass aber auch motorische Signale eine unerwar-tete Rolle spielen.

    Die Schlussfolgerungen von Hafed, Münch und ihren Kollegen basieren auf verschiedenen Experimenten. Sie baten Probanden zunächst, auf hochaufgelöste, computergenerierte Aufnahmen von groben und feinen Oberflächen zu schauen, wobei die abgebildeten Texturen Ähnlichkeiten mit den normalerweise in Bildern vorhandenen Texturen hatten. Die Tü-binger Wissenschaftler blendeten zudem kurze Lichtblitze unterschiedli-cher Stärke ein, während die Probanden ihre Augen bewegten. Die Wis-senschaftler machten die sakkadische Unterdrückung daran fest, wie hell die eingeblendeten Lichtblitze sein mussten, damit sie noch zu er-kennen waren. Bei diesen Experimenten zeigte sich, dass die ultrakurze Blindheit von der angezeigten Textur abhing. Bei einer groben Textur war die Unterdrückung stärker, sie setzte früher ein und dauerte länger als bei einer feinen Textur. „Dass die Stärke und die Länge der Unterdrü-ckung von den abgebildeten Texturen abhängig waren, kann nur bedeu-ten, dass der Auslöser visueller Natur sein muss“, sagt Hafed. „Das ha-ben wir dann in vielen weiteren Untersuchungen bestätigt.“ Die Wissen-schaftler konnten zudem zeigen, dass das Sehsignal bereits unterdrückt ist, wenn es das Auge verlässt. „Die Netzhaut trägt also direkt zu unse-rem stabilen Seheindruck bei“, sagt Münch. „Sie erkennt, dass die Welt vorbeirauscht, und reguliert die Empfindlichkeit für kurze Zeit herunter.“

    Um den Einfluss der Augenbewegung selbst auszuloten, machten die Tübinger Wissenschaftler ein Experiment, bei dem die Probanden die Augen entweder in gewohnter Weise über ein Objekt bewegten oder aber die Augen stillhielten, während sich das Objekt bewegte. Die Bildfolgen auf der Netzhaut waren in beiden Fällen gleich, und in beiden Fällen kam es zu einer sakkadischen Unterdrückung. Allerdings war die Unterdrü-ckung mit den echten Augenbewegungen viel kürzer. „Wir schließen da-raus, dass das Bewegungssignal einen Unterschied bei der Dauer der sakkadischen Unterdrückung macht“, erläutern Saad Idrees und Matthias Baumann, die beiden Doktoranden, die die Experimente durch-geführt haben. „Das Bewegungssignal ist also noch relevant.“

    Die Studienergebnisse sind auch für die Medizin von Relevanz. Vielleicht tragen sie dazu bei, Menschen zu helfen, die ihre Welt krankheitsbedingt nicht mehr stabil sehen können. „Das kann ein sehr belastendes Symp-tom sein, etwa bei Multipler Sklerose oder Parkinson“, so Hafed. „Viel-leicht kann diesen Patienten eines Tages mit einer computergesteuerten Brille geholfen werden, die das instabile Bild wieder geraderückt.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Ziad Hafed
    Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Uni-versität Tübingen
    Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
    Otfried-Müller-Straße 25
    72076 Tübingen
    Telefon +49 7071 29-88819
    ziad.m.hafed@cin.uni-tuebingen.de

    Dr. Thomas Münch
    Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen
    Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Uni-versität Tübingen
    Otfried-Müller-Straße 25
    72076 Tübingen
    thomas.muench@uni-tuebingen.de


    Originalpublikation:

    Idrees S., Baumann M.P., Franke F., Münch T.A., Hafed Z.M. (2020): Perceptual saccadic suppression starts in the retina, Nature Communi-cations.
    https://doi.org/10.1038/s41467-020-15890-w


    Weitere Informationen:

    http://www.hih-tuebingen.de Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
    https://www.uni-tuebingen.de Eberhard Karls Universität Tübingen


    Bilder

    Prof. Dr. Ziad M. Hafed
    Prof. Dr. Ziad M. Hafed
    Copyright: Akshay Markanday, 2017
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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
    Biologie, Medizin, Psychologie
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Prof. Dr. Ziad M. Hafed


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