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05.11.1998 00:00

Freier Fall ins Nichts? - Ambulante Nachsorge für hirngeschädigte Patienten ist unzureichend

Kornelia Suske Pressestelle
Klinikum der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

    In Deutschland erleiden pro Jahr bis zu einer halben Million Menschen eine Läsion des Schädels oder Gehirns als Folge eines Unfalls, Schlaganfalls oder anderer Krankheiten. Dies belegt eine vom Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) in Auftrag gegebenen Sekundäranalyse. Mindestens 100 000 dieser Patienten behalten behandlungsbedürftige Dauerfolgen zurück. Viele dieser Patienten fallen nach der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik jedoch in ein "Schwarzes Loch", da es außerhalb der stationären Versorgung an Therapiemöglichkeiten mangelt. Eine neue Behandlungsmöglichkeit, die "neuropsychologische Therapie" könnte diesen Patienten erheblich helfen. Bei einer systematischen Befragung ihrer Mitglieder konnte der BDP im gesamten Bundesgebiet bislang jedoch nur knapp 80 Einrichtungen feststellen, die solche Patienten ambulant nachbehandeln können.
    Ein neu erschienenes Buch weist auf neue Therapiemöglichkeiten hin, mit der vielen Menschen nach einem Hirnschaden durch gezielte Behandlung erheblich geholfen werden kann.

    Carmen M., 22 Jahre, kann sich an diesen entscheidenden Tag in ihrem Leben nicht mehr erinnern, obwohl sie die Auswirkungen noch immer tagtäglich spürt: Nach einem nächtlichen Diskothekenbesuch war sie ohne eigenes Verschulden in einen Autounfall verwickelt worden und hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Den Unfall hat sie nach dreiwöchigem Koma überlebt, auch die Knochenbrüche sind einigermaßen ausgeheilt, aber sie leidet seitdem unter gravierenden Konzentrations- und Gedächtnisproblemen. Schon nach kurzer Zeit kann sie sich nicht mehr daran erinnern, was gerade geschehen ist. Hat sie schon gegessen? Sollte sie noch etwas erledigen? Noch immer will sie morgens in die Universität fahren, um dort ihr Biologiestudium fortzusetzen. Jeden Tag aufs Neue müssen ihre Angehörigen dann versuchen, ihr beizubringen, daß sie nie wieder wird studieren können. Völlig andere Probleme hat Heinz G., 55 Jahre alt, der nach einem Schlaganfall eine halbseitige Lähmung hat, im Rollstuhl sitzt und unter Sprachstörungen leidet. Seine fast 15 Jahre jüngere Ehefrau hat sich von dem vorher gut verdienenden, dynamischen Bankkaufmann scheiden lassen, da sie den Rest ihres Lebens nicht mit einem Schwerbehinderten verbringen wollte. Die alleinstehende Mutter von Heinz G., selbst schon 79 Jahre alt, ist mit seiner Versorgung völlig überfordert.

    Beide Patienten, Carmen M. wie auch Heinz G., haben etwas gemeinsam: Seit dem Krankenhaus und einem rund sechswöchigen Aufenthalt in einer Rehabilitationseinrichtung leben sie ohne Therapie zu Hause, denn eine ambulante Nachsorge am Heimatort existiert in Deutschland für hirngeschädigte Menschen so gut wie nicht. Der Diplom-Psychologe Reinhold Steinberg, zweiter Vorsitzender der Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen, hält diese Situation für untragbar. Er weist darauf hin, daß nicht nur die Psychologenverbände, sondern auch die Reha-Kommission des Verbandes Deutscher Rentenversicherer schon seit über zehn Jahren vehement fordern, die Nachsorge neurologischer Rehabilitationspatienten in Deutschland zu verbessern. Niedergelassene Nervenärzte und Psychologen, Logopäden, Ergotherapeuten, Sprachtherapeuten und Krankengymnasten müssen beim Aufbau eines Netzwerks der ambulanten Nachsorge viel mehr unterstützt werden. Dr. Erich Kasten, Neuro-Wissenschaftler an der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität und Leiter der Arbeitsgruppe Neuropsychologie im Psychologenverband BDP, weist darauf hin, daß in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Rehabilitationskuren für die Patienten fast immer ein erneuter Abfall der geistigen Leistungsfähigkeit entsteht, da zwischen den Reha-Aufenthalten meist nichts geschieht. Das ist, so Dr. Kasten, Sisyphusarbeit im wahrsten Sinne des Wortes: die Kollegen in den Rehakliniken fördern den Betroffenen wochenlang intensiv, um dann ein Jahr später festzustellen, daß der Patient ohne Therapie wieder Rückschritte erlitten hat. Auf diese Weise wird vom Gesundheitssystem viel Geld verschwendet. Die in der Klinik begonnene Therapie muß sinnvoll fortgesetzt werden, wenn der Patient wieder zu Hause lebt.

    Eine neue Fachrichtung, die Klinische Neuropsychologie, könnte diesen Patienten erheblich weiterhelfen, es mangelt bislang aber noch an ausgebildeten Therapeuten und vor allem an Abrechnungsmöglichkeiten mit den Krankenkassen. Ein aktuelles Buch weist nun auf Möglichkeiten dieser Behandlung hin. Der Band "Effektive neuropsychologische Behandlungsverfahren" von Dr. Erich Kasten, Diplompsychologin Gabriele Schmid und Dr. Reinhard Eder (Deutscher Psychologen Verlag, ISBN 3-931589-19-6, 52,00 DM) liefert einen umfassenden Überblick zu Behandlungsverfahren, die zeigen, daß Neuropsychologie eine sinnvolle Behandlungsmethode ist. Jemand wie Carmen M., die in jungen Jahren eine Hirnschädigung erleidet, verursacht über die Jahre hinweg Kosten von oft weit über einer Million Mark. Eine angemessene neuropsychologische Behandlung, durch welche die Lebensqualität verbessert und möglicherweise sogar wieder ein Einstieg in eine Berufstätigkeit möglich sein könnte, kostet dagegen weniger als ein Prozent dieses Betrages.

    "Neuropsychologie" beschäftigt sich mit Diagnostik und Behandlung von Hirngeschädigten. Die Arbeit geschieht in Zusammenarbeit mit Neurologen, Krankengymnasten, Ergo- und Sprachheiltherapeuten. Das wesentlichste Ziel der Neuropsychologie ist eine genaue Feststellung von Ausfällen in den Bereichen Wahrnehmung, Konzentration, Denken und Gedächtnis und bildet die Grundlage für eine gezielte Behandlung. Darüber hinaus benötigen Patienten, die oft aus völliger Gesundheit abrupt in den Zustand schwerster Behinderung geworfen wurden, der psychotherapeutischen Unterstützung. Es handelt sich bei Neuropsychologen also um eine hochspezialisierte Gruppe. Seit Sommer '97 existiert daher auch eine spezielle Ausbildung der Gemeinsamen Kommission Klinische Neuropsychologie (GKKN), die rund 1 000 Stunden Fortbildung umfaßt. Das Zertifikat "Klinischer Neuropsychologe" gewährleistet, daß der Therapeut eine dreijährige Fortbildung auf dem Gebiet der Behandlung von Hirnschäden durchlaufen hat.

    Eine einheitlich geregelte Abrechnungsmöglichkeit zwischen den Neuropsychologen und den Krankenkassen gibt es zur Zeit noch nicht. Diese Situation ist extrem ungünstig. Unabhängig davon, welches Familienmitglied von der Hirnschädigung betroffen ist, haben diese Patienten und ihre Angehörigen mit einer ganzen Reihe von Problemen zu kämpfen. In der Regel kommt das Problem der Kostenerstattung für diese Therapie dann noch hinzu. Die Psychologenverbände kämpfen daher zur Zeit darum, Neuropsychologie von der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden als zulässiges Behandlungsverfahren zuzulassen. Daneben betreibt die GKKN (eine Kommission aus Psycho- und Neurologen) derzeit die Anerkennung der Klinischen Neuropsychologie beim wissenschaftlichen Beirat der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Hierbei stellt das o.g. Buch einen wesentlichen Beitrag dar.

    Kontaktadresse: Dr. Erich Kasten, Leiter der "Arbeitsgruppe Neuropsychologie" im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP), Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum, Leipziger Str. 44, 39120 Magdeburg (Tel.: 0391/6117119, Fax: 0391/6117103,
    e-mail: erich.kasten@medizin.uni-magdeburg.de).


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Psychologie
    überregional
    Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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