Wie soll die Gegenwart mit unserer Vergangenheit vernünftig umgehen? Welche Formen der Vergegenwärtigung sind angemessen? Warum ist „Erinnerung“ heute längst nicht mehr der Königsweg für deutsche Selbstaufklärung? Der Historiker, Geschichtsdidaktiker und Psychoanalytiker Volkhard Knigge hat solche Fragen seit den frühen 1990er Jahren gestellt und prägnant beantwortet – als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und seit 2008 zudem als Inhaber der Professur für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit der Universität Jena. Im Mai ging er in den Ruhestand, jetzt würdigt ein bildreiches Buch sein Denken und Handeln als Wissenschaftler und Hochschullehrer.
Bereits Volkhard Knigges Texte aus den späten 1980er Jahren lassen die Programmatik erkennen: Fragen der Vermittlung standen stets im Vordergrund: sei es im Unterricht mit Schülerinnen und Schülern, bei der Aufklärung mit Hilfe von historischen Artefakten oder in der Reflexion auf Kunst und Literatur. Eines von Knigges leidenschaftlichen Anliegen war der angemessene Umgang mit Überresten und Denkmalen an historischen Orten. Wenn immer man solche Relikte wiederherstellt und konserviert, ihre Präsentation sollte so angelegt sein, „dass sie vom Gebrauch eigener historischer Vorstellungskraft nicht entlasten, deren Entwicklung aber fördern“, heißt es in einem Beitrag über die Gedenkstätte Buchenwald. An der Geschichte der Gelände einstiger Konzentrationslager zeigt Knigge beispielhaft, wie die Gesellschaften in Deutschland Ost wie West versuchten, mit dieser Vergangenheit klarzukommen. Während im Osten Deutschlands in den 1950er Jahren die historisch-politische Deutung „durch Sterben und Kämpfen zum Sieg“ zur Leitlinie für kommunistische Denkmalsarchitekturen wurde, ließen westdeutsche Verantwortliche buchstäblich Gras und Bäume über die einstigen Sterbeorte Tausender Häftlinge wachsen: Waldfriedhöfe wie etwa in Bergen-Belsen.
Erinnerung braucht Wissen und Orientierung auf Werte
Volkhard Knigge hat das Ringen um die Deutung von Gesellschaftsverbrechen nicht nur begleitet, sondern gab immer wieder Denkanstöße für die Debatte, forderte Begriffsschärfe, wurde zu einer prägenden Figur über Deutschland hinaus. Knigges Konzepte sind getragen von der Sorge, die zunehmende Institutionalisierung des Gedenkens führe in formelhafte Routinen. Weil diese Verbrechen die Menschen, die unverzeihlich bleiben, dauerhaft verunsichern, hat der Historiker „willentliche Selbstbeunruhigung“ als das Ziel historischen Lernens in Deutschland beschrieben. Ein „negatives Gedächtnis“, das dabei entsteht, sei indes nicht Last, sondern bietet Gründe und Orientierungswissen für ein gemeinsames Streben nach besserem und gerechtem Leben für alle. Sein Credo: „Erinnerung braucht Wissen und Orientierung auf Werte“.
Zu den berührendsten Texten im Buch gehören die Beiträge über die Schriftsteller und Buchenwald-Überlebenden Jorge Semprún und Imre Kertész. Volkhard Knigge beschreibt beide als Zeugen, die in ihrer Kunst das selbst erlebte Grauen beschreiben und dabei die Abgründe des Humanitären ausloten.
Auswahl und Arrangement der 48 Beiträge im Buch hat der Historiker Axel Doßmann vorgenommen, langjähriger Mitarbeiter an Volkhard Knigges Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ein Register erleichtert den systematischen Zugriff auf das Œvre.
Dr. Axel Doßmann
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fürstengraben 13, 07743 Jena
E-Mail: axel.dossmann[at]uni-jena.de
„Volkhard Knigge. Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts“, hg. von Axel Doßmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 630 Seiten, 129, z. T. farbige Abb., 38 Euro, ISBN: 978-3-8353-3696-4
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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Geschichte / Archäologie
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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