Die Abstimmung zum Brexit hat die Migration von Britinnen und Briten nach Europa massiv verstärkt. Der Zuwachs seit dem Referendum im Jahr 2016 beträgt etwa 17.000 Personen pro Jahr oder 30 Prozent mehr im Vergleich zum Zeitraum 2008 bis 2015. Das zeigt eine Studie von Daniel Auer vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Daniel Tetlow von der Wissenschaftskooperation „Oxford in Berlin“. Ihre Analyse beschreibt erstmals, welche kollektiven Prozesse hinter der individuellen Migrationsentscheidung stehen.
Die beiden Wissenschaftler sehen in der Unsicherheit über die wirtschaftliche und soziale Situation in Großbritannien die Hauptursache dafür, dass viele Briten ihre Heimat verlassen. Demzufolge versuchen britische Bürgerinnen und Bürger ihre ökonomische und soziale Zukunft durch Abwanderung aus Großbritannien zu verbessern. Gleichzeitig versuchen jene, die bereits im europäischen Ausland leben, ihre Lebenssituation durch Einbürgerung abzusichern, insbesondere da bis heute keine vollständige Klarheit über künftige Niederlassungsfreiheiten für sie im europäischen Ausland herrscht. Die Anzahl der britischen Bürgerinnen und Bürger, die einen EU-27-Pass erhalten haben, stieg in der gesamten EU seit 2016 um über 500 Prozent; in Deutschland sogar um mehr als 2.000 Prozent. Damit können mögliche künftige Einschränkungen in der Personen- und Niederlassungsfreizügigkeit gemildert werden. Seit dem Referendum haben 31.600 Britinnen und Briten die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, das entspricht fast einem Drittel der britischen Bevölkerung in Deutschland. Bei Einbürgerungen in Deutschland rückte Großbritannien damit nach der Türkei auf den zweiten Platz, noch vor Polen und Rumänien. „Die Zuwachsraten bei Wanderungsbewegungen und Einbürgerungszahlen haben ein Ausmaß, wie man es nur in Folge großer ökonomischer oder politischer Krisen kennt“, erklärt WZB-Forscher Daniel Auer.
Um mehr über die Beweggründe zu erfahren, ergänzten die beiden Autoren die Zahlen der offiziellen Migrationsstatistiken durch qualitative Interviews mit 46 Briten, die zwischen 2007 und 2019 nach Deutschland eingewandert sind. Die unmittelbaren Folgen des Referendums auf Migrationsentscheidungen sind demnach klar ersichtlich: Die Entscheidung zur Auswanderung wurde mitunter impulsiv und unter dem Eindruck einer großen Krise und unsicherer Zukunftsaussichten getroffen. Das hat die Dauer zwischen dem Entschluss auszuwandern und der tatsächlichen Migration von circa 12 Monaten auf wenige Wochen verkürzt und die generelle Risikobereitschaft erhöht. Doppelt so viele Befragte, die nach dem Referendum migrierten (57 Prozent gegenüber 24 Prozent vor dem Brexit), gaben an, ein „großes Risiko“ einzugehen. Zwei Drittel waren bereit, mit dem Umzug Einkommenseinbußen hinzunehmen; viele migrierten ohne Jobzusage. Ein Drittel der Befragten berichtet außerdem, das Brexit-Votum habe ihre psychische Gesundheit unmittelbar beeinflusst und Depressionen ausgelöst. Gleichzeitig ist die Bereitschaft zur Integration gewachsen. Die eingewanderten Britinnen und Briten lernen verstärkt Deutsch und engagieren sich in der Aufnahmegesellschaft.
„Durch den Brexit verliert das Vereinigte Königreich eine wachsende Zahl gut ausgebildeter Menschen, die bereit sind, viel zu investieren, um Teil Kontinentaleuropas zu werden und langfristig zu bleiben“, fasst Co-Autor Daniel Tetlow die Auswertungen der Interviews zusammen.
Dr. Daniel Auer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung
Telefon (030) 25491-459
daniel.auer@wzb.eu
Die Studie ist unter dem Titel Brexit, Collective Uncertainty and Migration Decisions als Discussion Paper (SP VI 2020–102) erschienen:https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2020/vi20-102.pdf
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