Umweltpolitische Entscheidungen basieren häufig auf so genannten Kipppunkten. Ein Forscherteam unter Leitung des Biodiversitätsexperten Helmut Hillebrand von der Universität Oldenburg berichtet nun in der Zeitschrift Nature Ecology and Evolution, dass solche Schwellenwerte aus Umweltdaten kaum ablesbar sind. Das Team schließt dies aus einer umfangreichen Datenanalyse.
Viele politische Maßnahmen, die die Folgen globaler Umweltveränderungen abmildern sollen, stützen sich auf das Konzept der sogenannten Kipppunkte: Demnach schlägt ein Ökosystem in einen anderen, oft schlechteren Zustand um, sobald eine Belastung, wie etwa der Verlust der biologischen Vielfalt, einen bestimmten Schwellenwert überschreitet. Umweltbelastungen sollten daher unter dieser Schwelle bleiben, damit ein Ökosystem stabil bleibt. Ein internationales Wissenschaftlerteam unter der Leitung des Oldenburger Biodiversitätsexperten Prof. Dr. Helmut Hillebrand stellt nun in Frage, ob umweltpolitische Entscheidungen auf dem Konzept der Kipppunkte basieren sollten. Denn eine umfangreiche Analyse bereits veröffentlichter Daten aus mehr als 4.600 Feldexperimenten ergab, dass solche Schwellenwerte kaum zu identifizieren sind. Nach Ansicht der Wissenschaftler berge das Fokussieren auf solche Werte daher die Gefahr, die negativen Auswirkungen allmählicher Veränderungen auf Ökosysteme zu übersehen - mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen. Die Analyse ist online im Fachmagazin Nature Ecology and Evolution erschienen.
In den vergangenen Jahren sind viele ökologische Studien veröffentlicht worden, die das Kippverhalten von Ökosystemen aufzeigen. Beispielsweise können sich Korallenriffe in ein von kleinsten Algen dominiertes System wandeln, wenn zu viele Nährstoffe – Fachleute sprechen von Eutrophierung – eingetragen werden. Aus diesem Grund verlassen sich politische Entscheidungsträger zunehmend auf Schwellenwerte, um Strategien zum nachhaltigen Schutz von Ökosystemen zu entwerfen. „Wenn solche Schwellenwerte jedoch zum Standardinstrument für das Bewerten des globalen Wandels werden sollen, müssen wir zeigen können, auf welchem Niveau sie eigentlich liegen", sagt Hillebrand, Leiter der Studie und Direktor am Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg.
Der Biodiversitätsexperte und sein Team wollten deshalb herausfinden, ob sich Schwellenwerte aus den verfügbaren Umweltdaten überhaupt ableiten oder sogar vorhersagen lassen. „Denn um eine gute Umweltpolitik zu entwickeln, brauchen wir eine allgemeine Leitlinie“, betont Hillebrand. „Das Problem ist aber, dass Schwellenwerte in natürlichen Ökosystemen schwer zu erkennen sind, wenn die von Menschen verursachten Veränderung nicht besonders groß sind. Zudem können wir nicht für jeden Prozess in jedem Ökosystem tatsächlich Schwellenwerte festlegen.“
Um einen besseren Überblick darüber zu erhalten, wie Ökosysteme auf Veränderungen reagieren, griffen die Wissenschaftler auf veröffentlichte Daten zurück, für die bereits sogenannte Meta-Analysen vorliegen. „Diese Analysen sind eine statistische Methode, mit der Ökologen die Ergebnisse vieler Feldexperimente zusammenzufassen“, erklärt Hillebrand. Die Untersuchungen befassen sich vor allem mit den Folgen heutiger, aber auch zukünftiger Belastungen, wie zum Beispiel erhöhte Kohlendioxid- oder Nährstoffgehalte. Die Studien bewerten auch die sogenannten funktionellen Reaktionen der Ökosysteme, also beispielsweise Veränderungen im Kreislauf der Elemente oder in der Produktion von Biomasse.
Insgesamt verwendeten die Autoren Informationen aus 36 Meta-Analysen, die 4601 einzigartige Feldexperimente mit natürlichen oder naturnahen ökologischen Gemeinschaften umfassen. Dies ist nach Ansicht der Autoren die umfangreichste Analyse von wissenschaftlicher Literatur zum globalen Wandel, die je unternommen wurde. Jedes Experiment war durch einen bestimmten Grad der Umweltbelastung gekennzeichnet, der zu einer spezifischen Reaktion der ökologischen Gemeinschaften führte.
Anhand der vorhandenen Daten berechneten die Autoren die sogenannte Effektgröße, also wie stark ein System auf eine Belastung reagiert. Die Forscher entwickelten dann statistische Instrumente, mit denen sie testen konnten, ob das Ausmaß der Reaktion mit dem Grad der Belastung zusammenhängt. Wenn dies der Fall war, untersuchten sie, ob es einen bestimmten Belastungsgrad gab, bei dem außerordentlich starke Reaktionen auftraten. „Dies würde auf das Vorhandensein von Schwellenwerten hinweisen", erklärt Koautor Dr. Jan Freund, Modellierungsexperte am Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg.
„Die Ergebnisse waren verblüffend“, sagt Hillebrand. Während die überwiegende Mehrheit der Meta-Analysen ergab, dass zwar der Grad der Belastung das Ausmaß der Reaktion beeinflusst, wiesen nur sehr wenige (drei von 36) statistische Beweise für eine Überschreitung eines bestimmten Schwellenwerts auf. Die Tatsache, dass keine Schwellenwerte auftraten, könnte allerdings zweierlei bedeuten, betont Hillebrand: „Die Werte sind entweder nicht vorhanden oder sie existieren zwar, sind jedoch mit unserem statistischen Ansatz nicht nachzuweisen.“
Um diese Frage zu klären, simulierte der Doktorand Julian Merder verschiedene Arten von Reaktionen auf den globalen Wandel, sowohl mit als auch ohne Schwellenwert. Wenn die Datensätze wenig statistisches Rauschen aufwiesen, waren die Wissenschaftler in der Lage, zwischen Fällen mit und ohne Schwellenwerte zu unterscheiden. „Sobald wir jedoch künstlich ein gewisses statistisches Rauschen einführten, waren die Schwellenwerte nicht mehr nachweisbar“, betont Merder. Das Rauschen spiegelte dabei mögliche reale Situationen wieder, wie etwa unterschiedliche Belastungsgrade, die für das Überschreiten einer Schwelle nötig sind.
Laut Hillebrand hat dieses Ergebnis große Auswirkungen: „Wenn wir nicht messen können, wie nahe ein bestimmtes Ökosystem an einem Schwellenwert liegt, der einen Kipppunkt induziert, dann kann sich auch eine Umweltrichtlinie oder eine bestimmte politische Maßnahme nicht an einem solchen Schwellenwert orientieren“, sagt er. Mitautor Dr. Ian Donohue, Ökologe am Trinity College Dublin (Irland), fügt hinzu: „Ich glaube, wir müssen die Idee eines klar definierten Bereichs, in dem ein Ökosystem stabil bleibt, aufgeben. Das Konzept erweckt den falschen Eindruck, dass kleine Belastungen Ökosysteme überhaupt nicht beeinträchtigen.“ Vielmehr zeigten die statistischen Analysen, dass selbst kleinste Umweltveränderungen große Folgen haben können.
„Wenn wir darauf warten, dass als Reaktion auf eine der großen, vom Menschen verursachten Umweltveränderungen wie Erwärmung oder Veränderung der biologischen Vielfalt deutliche Kipppunkte zu sehen sind, laufen wir Gefahr, die kleinen, allmählichen Veränderungen zu übersehen. Diese können sich aber im Laufe der Zeit so aufsummieren, dass sich unsere Wahrnehmung, wie ein gesundes Ökosystem aussieht, verschiebt“, fügt Hillebrand hinzu. Seiner Ansicht nach sollten sich Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger daher darauf konzentrieren, wie stark und wie lange Umweltschwankungen andauern und die möglichen Folgen im Blick haben, um künftig nach dem Vorsorgeprinzip handeln zu können.
Prof. Dr. Helmut Hillebrand, Tel.: 0441/798-8102 oder 0471/4831-2542, E-Mail: helmut.hillebrand@uol.de
Helmut Hillebrand et al: 'Thresholds for ecological responses to global change do not emerge from empirical data', Nature Ecology and Evolution, DOI: 10.1038/s41559-020-1256-9/articles/s41559-020-1256-9
http://uol.de/icbm/planktologie
http://hifmb.de
Die Studie von Hillebrand und Ko-Autoren warnt, dass die Reaktion natürlicher Ökosysteme (hier: ein ...
Foto: Universität Oldenburg
Die Salzwiesen im Wattenmeer zählen zu den besonders vielfältigen Ökosystemen.
Foto: Monika Feiling
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Tier / Land / Forst, Umwelt / Ökologie
überregional
Forschungsergebnisse, Kooperationen
Deutsch
Die Studie von Hillebrand und Ko-Autoren warnt, dass die Reaktion natürlicher Ökosysteme (hier: ein ...
Foto: Universität Oldenburg
Die Salzwiesen im Wattenmeer zählen zu den besonders vielfältigen Ökosystemen.
Foto: Monika Feiling
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