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16.09.2020 11:00

Weniger Opioide: Die „therapeutische“ Wirkung bildgebender Diagnostik bei Rückenschmerzen

Dr. Bettina Albers Pressestelle der DGN
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

    Bei Patienten mit Rückenschmerzen zeigt die bildgebende Routinediagnostik der Wirbelsäule relativ häufig auffällige Befunde, die meist nichts mit den Beschwerden der Patienten zu tun haben. Solche Zufallsbefunde (meist alterstypische Abnutzungen) findet man auch bei beschwerdefreien Menschen. Wie wichtig diese relativierende Information für Ärztinnen/Ärzte und Patientinnen/Patienten ist, zeigte nun eine US-amerikanische Studie: Die informierten Patienten benötigten weniger Opioide.

    Die bildgebende Routinediagnostik der Wirbelsäule, speziell der Lendenwirbelregion zeigt nicht selten Befunde, die für Arzt und Patienten zunächst alarmierend wirken können, jedoch meist nichts mit den Beschwerden des Patienten zu tun haben (sogenannte Zufallsbefunde). Frühere Studien zeigten, dass es oft auch bei gesunden bzw. asymptomatischen Menschen mit unterschiedlichen Häufigkeiten (Prävalenzen) Auffälligkeiten bzw. Anomalien in der lumbalen Bildgebung geben kann. Das sind oft altersbedingte, degenerative Veränderungen.

    Eine aktuelle, randomisierte Arbeit [1] aus den USA untersuchte im Kontext der vom Hausarzt veranlassten spinalen Bildgebung, welche Auswirkungen die Einbeziehung solcher „Benchmarkdaten“ zur Prävalenz typischer radiologischer Zufallsbefunde in den Befundbericht auf die Versorgung der Patienten hat.

    Die Studie screente 250.401 erwachsene Teilnehmer mit Rückenschmerzen aus 98 Einrichtungen der medizinischen Primärversorgung (insgesamt 3.278 Ärzte). Die bildgebende Diagnostik der Teilnehmer fand zwischen 2013 und 2016 statt; alle hatten im vorangegangenen Jahr keine entsprechende Diagnostik erhalten. Die Datenanalyse erfolgte 2018/2019. 238.886 Teilnehmer (44,2% älter als 60 Jahre, 57,5% Frauen) wurden in zwei Gruppen randomisiert: Für die Patienten der Kontrollgruppe (n=117.455; 49,2%) wurden „herkömmliche“ radiologische Befundberichte erstellt, in der Interventionsgruppe (n=121.431; 50,8%) beinhalteten die Befundberichte zusätzlich Hinweise zur Prävalenz solcher Abnutzungserscheinungen und altersbedingten Wirbelsäulenanomalien bei gleichaltrigen Menschen ohne Rückenbeschwerden.

    Untersucht wurde, ob sich die Arztbesuche und die Therapie zwischen den beiden Gruppen unterschied, also ob das Wissen darüber, dass die „Anomalie“ gewissermaßen normal ist, die Krankheitswahrnehmung der Betroffenen beeinflusste. Als primärer Endpunkt wurde die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung erhoben, gemessen“ als RVUs („spine-related relative value units“) über 365 Tage. Sekundär wurden die Verschreibungen opioidhaltiger Schmerzmittel durch Ärzte der Primärversorgung analysiert. Die Index-Diagnostik war bei ca. 80% der Patienten eine konventionelle Röntgenaufnahme, bei 20% ein MRT und bei 0,4% ein CT).
    Im Ergebnis war in der Interventionsgruppe insgesamt kein Rückgang der Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung zu verzeichnen (kumulativer RVU-Wert der Kontrollen median 3,56 [2,71-5,12] und Interventionsgruppe median 3,53 [2,68-5,08]; p=0,54). Die RVU-Raten unterschieden sich zwischen den Gruppen auch nicht im Hinblick auf die spezifischen klinischen Diagnosen im Befundbericht; sie unterschieden sich aber in der Subgruppenanalyse nach Art der Index-Bildgebung: Die 0,4% der Patienten (n=943) mit einem Index-CT hatten in der Interventionsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe signifikant weniger RVUs (−29,3%). Die Autoren erklären dieses Ergebnis damit, dass nach initialen CT-Untersuchungen möglicherweise häufiger und zeitnaher therapeutische Interventionen (z. B. OP) erfolgt sein könnten, die so effektiv waren, dass im Verlauf dann fast ein Drittel weniger RVUs notwendig wurden

    Ein Unterschied zeigte sich allerdings im sekundären Endpunkt: Bei Patienten der Interventionsgruppe waren weniger opiathaltige Schmerzmittel rezeptiert worden als in der Kontrollgruppe, der Unterschied war zwar insgesamt nicht groß, aber doch statistisch signifikant (36,2% vs. 37%; OR 0,95; p=0,04). Betrachtete man nur die Patienten, die vor der bildgebenden Untersuchung keine Opioide benötigt hatten, war der Gruppenunterschied deutlich größer: Im Zeitraum von 12 Monaten wurden 25% der Patienten, denen die Bildgebung erklärt und die Befunde relativiert worden waren, Opioide verschrieben, in der Kontrollgruppe erhielten 75% Opioide - also dreimal so viele.

    „Schmerztherapeutisch ist das gut nachvollziehbar“, erklärt Professor Hans-Christoph Diener, Essen, Pressesprecher der DGN. „Patienten, die wissen, dass eine bestimmte in der Bildgebung sichtbare Abnutzungserscheinung allgemein häufig ist und nicht in einem kausalen Zusammenhang mit dem Schmerz stehen oder gar gefährlich sind, sind entspannter, was sich dann wiederum positiv auf das Schmerzempfinden und die Psyche auswirkt. Daher ist die Patientenedukation bereits eine wesentliche Säule der multimodalen Therapie bei Patienten mit chronischen Schmerzen. Denn Wissen hilft gegen Schmerzen.“

    „Interessant sind diese Daten auch vor dem Hintergrund der sogenannten Opioid-Epidemie in den USA. In den USA werden bei Rückenschmerzen viel häufiger Opioide verschrieben als in Europa. Doch auch in Europa werden zu viele Opioide verschrieben, wie 2019 ein Bericht der OECD [2] zeigte,“ kommentiert Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN. „Ärztinnen und Ärzte sollten hier also gegensteuern. Der relativierende Hinweis in den Befundberichten der Bildgebung ist eine wichtige Maßnahme, die womöglich den Bedarf an opioidhaltigen und anderen Schmerzmittel senken kann und darüber hinaus einfach und preiswert ist. Auch die aktuellen Leitlinien [3] haben die potenziellen Anwendungsgebiete weiter eingeschränkt. Darüber hinaus hat die ‚sprechende Medizin‘ grundsätzlich eine große Bedeutung in der Schmerztherapie: Gerade beim Umgang mit chronischen Rückenschmerzen ist es wichtig, dass der behandelnde Arzt die Befunde dem Patienten sachgerecht erläutert und Unsicherheiten und Ängste abbaut.“

    [1] Jarvik JG, Meier EN, James KT et al. The Effect of Including Benchmark Prevalence Data of Common Imaging Findings in Spine Image Reportson Health Care Utilization Among Adults Undergoing Spine Imaging A Stepped-Wedge Randomized Clinical Trial. JAMA Network Open 2020; 3 (9): e2015713 doi:10.1001/jamanetworkopen.2020.15713

    [2] OECD (2019), Addressing Problematic Opioid Use in OECD Countries, OECD Health Policy Studies, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/a18286f0-en.

    [3] Leitlinie: Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS), 2. Aktualisierung, 2020; https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/145-003l_S3_LONTS_2020-04.pdf

    Pressekontakt
    Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    c/o albersconcept, Jakobstraße 38, 99423 Weimar
    Tel.: +49 (0)36 43 77 64 23
    Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
    E-Mail: presse@dgn.org

    Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
    sieht sich als wissenschaftliche Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 10.000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern und zu verbessern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

    Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
    Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. med. Christian Gerloff
    Past-Präsident: Prof. Dr. Gereon R. Fink
    Generalsekretär: Prof. Dr. Peter Berlit
    Geschäftsführer: Dr. rer. nat. Thomas Thiekötter
    Geschäftsstelle: Reinhardtstr. 27 C, 10117 Berlin, Tel.: +49 (0)30 531437930, E-Mail: info@dgn.org


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    Journalisten
    Medizin
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    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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