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04.02.2004 17:20

"Ist das Schwerbehindertenrecht den Aufgaben der Zukunft gewachsen?"

Petra Giegerich Kommunikation und Presse
Johannes Gutenberg-Universität Mainz

    Tagung zur Entwicklung und zu den zukünftigen Aufgaben des Schwerbehindertenrechtes am Freitag, 13. Februar 2004, an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

    Am 1. Juli 2001 trat das Sozialgesetzbuch IX in Kraft. Es regelt umfassend die Rehabilitation und stellt dabei die Teilhabe behinderter Menschen in den Mittelpunkt. Diese sollen nicht mehr "Objekt" einer wohlgemeinten Fürsorge sein, sondern in die Lage versetzt werden, ein eigenständiges und normales Leben zu führen.
    Das bisherige Schwerbehindertenrecht wurde in den Teil II als Ganzes übernommen.

    Die Bundesregierung wird Ende 2004 in einem Bericht Bilanz ziehen, um festzustellen, ob das Gesetz den hohen Erwartungen gerecht geworden ist und unter Umständen Vorschläge für Veränderungen machen. Die Vereinheitlichung der verschiedenen Träger der Rehabilitation und die Verbesserung der Leistungen können als wichtige Meilensteine angesehen werden. Sie stärken die Rolle von Menschen mit Behinderungen, verbessern die soziale Integration in den verschiedenen Altersgruppen und ebnen den Weg in die Berufstätigkeit. So sind Familien, die ein schwerstbehindertes Kind zu betreuen haben, im Gegensatz zur Vergangenheit nicht mehr direkt von Armut bedroht, da die Sozialhilfeträger von Beginn an die erforderlichen Kosten übernehmen.

    Nachdenkenswert erscheint allerdings die bisherige Struktur des Kerns des Sozialgesetzbuches IX, des alten Schwerbehindertenrechtes. Dieses ging aus dem Reichsversorgungsgesetz vom Mai 1920 und dem Bundesversorgungsgesetz aus dem Jahre 1952 hervor. Grundlage für die Definition einer Behinderung sind die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit", die erstmalig nach der Verabschiedung des Reichsversorgungsgesetzes im Mai 1920 veröffentlicht wurden. Die Struktur der Anhaltspunkte ist seit diesem Zeitpunkt gleich geblieben, gewisse Modifikationen haben die Einschätzungen der Behinderung auf körperlichem Gebiet erfahren, ein größeres Gewicht wurde seelischen Beeinträchtigungen eingeräumt.

    Erfolgreiche Integration der Kriegsbeschädigten

    Das Versorgungsgesetz des Deutschen Reiches und das Bundesversorgungsgesetz haben ihre Aufgabe vorbildlich erfüllt. Nach dem 1. Weltkrieg wurden mehr als 2,3 Millionen Kriegsgeschädigte (Versorgungsberechtigte) mit Hilfe des Gesetzes integriert. Vom Bundesversorgungsgesetz profitierten im Jahre 1952 mehr als 4,3 Millionen Menschen, unter ihnen mehr als 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte mit einer MdE von über 30 von Hundert. Entschädigt wurde der konkrete Körperschaden. Die Höhe der Behinderung war dabei nur teilweise von dem Funktionsverlust abhängig, das erzielte Einkommen blieb unberücksichtigt. So wurde der Verlust eines ganzen Armes oder eines ganzen Beines mit einer MdE von 80 % bewertet. Diese Einstufung reicht bereits weit vor den 1. Weltkrieg zurück, sie findet sich in Taxen für die Entschädigung von Kriegsinvaliden des 18. und 19. Jahrhunderts. In der Höhe der MdE spiegelt sich neben dem Funktionsverlust ideeller Schadensausgleich. Wenn ein Körperteil "dem Vaterlandes geopfert" wurde, dann musste sich dies auch in einer numerisch hohen Behinderung niederschlagen, um dem Kriegsbeschädigten Ehre zu bezeugen. An der Höhe der MdE änderte auch die weitgehende oder vollständige Kompensation des Funktionsverlustes durch eine zunehmend besser werdende prothetische Versorgung seit dem 1. Weltkrieg nichts.

    Medizinischer Fortschritt und Schwerbehindertenstatistik

    Nachdem der 2. Weltkrieg mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt ist nur noch ein kleiner Teil der Kriegsbeschädigten am Leben. Dieser Rückgang spiegelt sich nicht in der Behindertenstatistik wider, im Gegenteil, der Anteil als behindert anerkannten Menschen hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Dies, obwohl die moderne Medizin viele Erkrankungen vollständig ausheilen und Behinderungen kompensieren kann. Erinnert sei an die Verbesserung der Belastbarkeit durch Herzoperationen und angioplastische Eingriffe oder der Ersatz verbrauchter und funktionsuntüchtiger Gelenke durch Endoprothesen. Auch die aggressive, aber häufig erfolgreiche Behandlung von bösartigen Tumoren hat zu einer erhöhten Heilungsquote geführt.

    Der medizinische Fortschritt und die nahtlose Rehabilitation führen dazu, dass die Zahl behinderter Menschen tendenziell zurückgeht. Dieser objektive Rückgang spiegelt sich allerdings nicht in der Schwerbehindertenstatistik, hier ist eher von einem Anstieg auszugehen. Etwa 8 % der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik ist als schwerbehindert (GdB über 50) anerkannt, diejenigen, die einen GdB unter 50 haben, sind statistisch nicht erfasst, es dürfte sich noch einmal um 10 % handeln. Die große Zahl der von den Versorgungsämtern anerkennten "Schwerbehinderten" steht in keinem Verhältnis zur Gruppe der Menschen mit schweren und Mehrfachbehinderungen, die auf Leistungen des Staates angewiesen sind.

    Die Mehrzahl der nach der nach dem Schwerbehindertenrecht anerkannten Personen ist nicht der Kerngruppe der Behinderten zuzurechnen. Durch eine Addition medizinischer Diagnosen (z. B. Endoprothesen beider Kniegelenke - trotz guter Funktion, künstlicher Hüftgelenkersatz, operative Behandlung einer Herzkranzgefäßerkrankung, durchgemachte Periarthritis der Schulter, Epikondylitis, durchgemachte innere Erkrankungen) wird leicht ein GdB von 50 - und damit der Schwerbehinderten-status erreicht, ohne dass die Teilhabe am sozialen Leben beeinträchtigt wäre.

    Aufgabe des Schwerbehindertenrechts: Konzentration auf Menschen, deren Teilhabe am sozialen Leben beeinträchtigt ist.

    Die bisherige Praxis hat zu einem Missverhältnis zwischen der hohen Zahl der anerkannten Behinderten und denjenigen Menschen, die einer substanziellen Unterstützung des Gemeinwesens bedürfen, geführt. Bei allen guten Ansätzen, die das Sozialgesetzbuch IX Menschen mit Behinderungen bringt, orientiert es sich bei der Festsetzung des Grades der Behinderung nicht an der Beeinträchtigung der Teilhabe am sozialen Leben. Diese gilt es auszugleichen, um allen Menschen ein möglichst normales Leben in gewohnter Umgebung zu ermöglichen.

    Das ohnehin unter Druck stehende Medizinsystem wird durch das bisherige Schwerbehindertengesetz zusätzlich belastet. Zahlreiche Konsultationen erfolgen nur, um den Behindertenstatus zu erreichen. Die Anfragen bei Ärzten häufen sich und führen hier zu einer nicht notwendi-gen Belastung. Um überhaupt das Schwerbehindertengesetz durchführen zu können, ist von Seiten der Länder ein großer finanzieller und personeller Einsatz erforderlich. Die Sozialgerichtsbarkeit wird mit einer Vielzahl von Verfahren belastet, die Ergebnisse stehen in keinem Verhältnis zum Nutzen. So wertvoll das Bundesversor-gungsgesetz und das Schwerbehindertengesetz in der Vergangenheit gewesen ist, so notwendig erscheint eine Neuorientierung, die sich an den Bedürfnissen der relativ kleinen Gruppe derjenigen Menschen orientiert, die in ihren Lebensfunktionen erheblich be-einträchtigt sind. Altersleiden und behandelte Krankheiten sowie überwundene Funktionsstörungen können nicht mehr als Aufgabe eines künftigen Schwerbehindertengesetzes angesehen werden.

    Diese Fragen und die künftige Ausgestaltung eines Schwerbehindertenrechtes in Zusammenhang mit der von der WHO formulierten internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit soll auf der Tagung am 13. Februar 2004 diskutiert werden. Hierzu laden wir herzlich ein.

    Ansprechpartner:
    Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Stephan Letzel
    Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Obere Zahlbacher Str. 67, 55131 Mainz
    Tel.: 06131 / 39 - 3 32 33,
    eMail: arbeitsmedizin@uni-mainz.de

    Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann,
    Landesarzt für Körperbehinderte in Hessen
    Eschersheimer Landstr. 353, 60320 Frankfurt/Main
    Tel.: 069 / 56 17 92,
    eMail: klaus-dieter.thomann@t-online.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Politik, Recht
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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